Die Stimme des Kommentators überschlug sich fast. »Sie schreiben Geschichte. Geschichte! Die ganze arabische Welt feiert.« So frenetisch jubelte Yonathan Cohen vom öffentlich-rechtlichen Sender Kan, der das Spiel Marokko gegen Portugal moderierte, über den Einzug der nordafrikanischen Nation ins Halbfinale.
Im Restaurant Agadir in der Tel Aviver Fußgängerzone Nahalat Binyamin wird jede WM-Begegnung auf einer Großleinwand übertragen. Wie die zwischen Portugal und Marokko. Die Stimmung ist beim Anpfiff noch entspannt, man sitzt draußen vor dem Lokal und wechselt zwischen Unterhaltungen mit Freunden und dem Blick auf die Leinwand. Normalerweise werden hier Burger serviert, an Fußballabenden gibt es Pizza. Die »Mondial«, wie die Fußball-Weltmeisterschaft in Israel genannt wird, ist ein dickes Ding.
QUOTE Knapp eine Million Israelis schauen bei jedem Spiel zu, die alle ausschließlich von Kan übertragen werden. Die höchste Zuschauerrate gab es bei der Begegnung Frankreich – England mit nahezu 30 Prozent, gefolgt von Portugal gegen Marokko mit einer Quote von mehr als 25 Prozent.
Yuval Biton, im Marokko-Trikot, sitzt mit zwei Freunden am Tisch und plaudert über Fußball und die Welt nach dem Ausgang des Schabbats. »Dass es für das Team ins Viertelfinale ging, ist schon unglaublich. Ich würde mich natürlich freuen, wenn sie es noch weiter schaffen. Aber ich glaube es, ehrlich gesagt, nicht. Portugal ist zu stark.« Das war noch vor dem Schlusspfiff.
Bitons Eltern stammen aus Marokko. Er ist in Israel geboren, »aber die marokkanische Kultur ist bei uns sehr präsent«. Dank des Normalisierungsabkommens besuchte der 35-Jährige mit seinen Eltern im Sommer das Land seiner Vorfahren. Für ihn war es das erste Mal in Marokko. »Es war wunderschön, alles so bunt, die Menschen unheimlich freundlich.«
Seine Eltern seien auf »Wolke sieben geschwebt«, als sie durch die Orte ihrer Kindheit und Jugend spazierten und ihm alles zeigten.
Marokkos jüdische Gemeinde ist die größte in Nordafrika, etwa 3000 Juden leben noch in dem Königreich. Weitere 700.000 Israelis stammen von Marokkanern ab und pflegen starke Verbindungen zu dem Land.
ABLEHNUNG Die offene Ablehnung, die Israelis in Katar entgegengebracht wird, findet Biton zwar »widerlich«, doch er meint: »Verrückte gibt es überall.« Zion Cohen, auch ein Teil seiner Familie stammt aus Marokko, pflichtet ihm bei: »Dadurch lassen wir uns die Freude am Fußball nicht verderben.«
Sagt es, und prompt fällt das Tor zum 1:0. Es ist die 42. Minute. Die drei Männer springen auf, jubeln und umarmen sich nach dem Treffer von Youssef En-Nesyri. Ganz so, als wäre es ihr Team. »Ist es ja irgendwie auch«, ruft Biton strahlend. »Es ist schön, dass so ein Underdog erfolgreich ist, und außerdem ist es in gewisser Weise mein Herkunftsland.«
Rund 700.000 Israelis haben marokkanische Wurzeln und fühlen sich dem Land verbunden.
Nach Katar reisen wollte er aber nicht. »Ich würde zu einer Weltmeisterschaft fliegen, wenn Israel mitspielt«, sagt er und gibt zu, dass er sich in dem Land »das die Hamas unterstützt, die offen zu Israels Zerstörung aufruft, vielleicht nicht sicher, zumindest aber nicht wohlfühlen würde«.
Seiner Unterstützung für Marokko tut das keinen Abbruch. Auch nicht dann, wenn die palästinensische Flagge auf dem Spielfeld gehisst wird? »Warum sollte es? Wir haben mit Marokko offiziell Frieden geschlossen. Das ist, worauf es ankommt.«
feindseligkeit Doch es ist nicht alles friedlich. Die israelischen sozialen Medien sind voller Videos, die zeigen, wie israelische Fernsehreporter in Katar von arabischen Fußballfans feindselig behandelt werden. Chefkorrespondent Moav Vardi von Kan gab zu, überrascht über das Ausmaß der Feindseligkeit zu sein. Einige Fans hätten »gewalttätige verbale Angriffe« gegen israelische Reporter gestartet. Das wird durchaus in Israel registriert. Viele meinen, dass Katar zwar die Regenbogenflagge verbietet, aber die palästinensische ohne Kommentar zulässt, um von der weltweiten Kritik wegen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land abzulenken.
Der Sportjournalist Paz Hesdai von der Nachrichtenseite »Wallas« meint, dass es in Katar keine Provokationen von israelischer Seite brauche: »Es reicht aus, mit einem Mikrofon, auf dem hebräische Buchstaben stehen, Fragen zu stellen, und die Probleme kommen. Wenn es glimpflich läuft, sind es ein paar Männer mit palästinensischen Fahnen, die einen bei der Arbeit stören, im etwas drastischeren Fall schlägt einer mit seiner Keffiyeh zu.«
Eine Gruppe israelischer Influencer mit zusammen mehr als 45 Millionen Anhängern war auf Initiative des Außenministeriums nach Marokko geflogen, um den zweiten Jahrestag der Normalisierung der Beziehungen zwischen den Ländern zu feiern. Zur Gruppe mit dem Namen »Influencing Peace« gehörten prominente jüdische und arabische Content-Ersteller aus den Bereichen Musik, Sport, Mode, Wissenschaft und Comedy.
feierlichkeiten Die Gruppe war während des Sieges gegen Kanada im Land und postete Aufnahmen der Feierlichkeiten. Viele der Clips gingen in den marokkanischen sozialen Medien viral und sammelten Hunderte Kommentare, die positive Gefühle gegenüber der Gruppe Israelis zum Ausdruck brachten – allerdings auch negative. Ido Daniel, der die Delegation im Namen des Außenministeriums leitete, unterstrich jedoch die »einzigartige Verbindung zwischen Israelis und Marokkanern« und lobte die »langfristigen Kooperationen und Beziehungen«.
Das würde sicher auch der marokkanische Botschafter in Israel, Abderrahim Beyyoudh, unterschreiben. Der schaute in einem Tel Aviver Restaurant das Spiel gemeinsam mit Israelis an und äußerte sich begeistert darüber, dass sie »den König und Marokko lieben«. Der Jubel in dem Lokal kannte kaum Grenzen, als das entscheidende Tor für die »Löwen« fiel.