Beatie Deutsch kann man gar nicht übersehen. Die 31-Jährige, die eigentlich Bracha heißt, ist die derzeit beste Marathonläuferin Israels, qualifiziert für die Olympischen Spiele in Tokio in diesem Sommer, und in den Teilnehmerfeldern sticht sie bereits durch ihre Kleidung heraus: Kopftuch, langärmeliges T-Shirt, lange Hose, knielanger Rock. Ist das nicht zu heiß?
»Total«, lautet ihre Antwort, aber als orthodox lebende Mutter will sie mit ihren Geboten auch dann nicht brechen, wenn sie etwa an einem Wüstenmarathon im Negev teilnimmt. »Ich bin entschlossen, für meine Werte einzustehen.«
Das gilt auch für Olympia. Der Frauenmarathon ist nämlich für Samstag, den 7. August, vorgesehen. Ob aber wirklich am Schabbat gelaufen wird, ist derzeit noch unklar. Laufen am Schabbat ist zwar nicht verboten, aber Deutsch ist Profisportlerin, erhält also Geld – bei Olympia vom israelischen Olympischen Komitee. Daher hat Deutsch beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und beim Weltleichtathletikverband den Antrag gestellt, den Frauenmarathon doch bitte um einen Tag vorzuverlegen, auf Freitag, den 6. August.
sponsor Unmöglich ist nichts. Das ist auch der Werbespruch ihres neuen Sponsors. Der deutsche Sportartikelkonzern Adidas wirbt schon lange mit dem Slogan »Impossible ist Nothing«, neuerdings wirbt er auch mit Beatie Deutsch. »Where some see an orthodox runner, I see my belief pushing me forward«, wird ihr in einer Ende April vorgestellten Anzeigenkampagne in den Mund gelegt. »Wo einige eine orthodoxe Läuferin erblicken, sehe ich meinen Glauben, der mich antreibt.«
Vom Weltverband der Leichtathleten erhielt sie die Antwort, dass man den Termin des Olympiamarathons nicht verschieben wolle. Und ein Sprecher des IOC sagte: »Wir stellen bei allen Entscheidungen die Belange der Athleten in den Vordergrund, gerade die Gesundheit und das Wohlergehen. Aber wir sind leider nicht in der Lage, den Zeitplan an die besondere Situation jedes einzelnen Athleten anzupassen.«
Ob das aber die definitive Antwort ist, lässt sich nicht sagen. Schon dass der Lauf nicht in der Olympiastadt Tokio, wo es im August sehr heiß ist, stattfinden soll, sondern im klimatisch besser geeigneten Sapporo, zeigt, dass die Olympiaplaner auch umplanen können. Die Covid-Pandemie zwingt sie ohnehin zu Flexibilität.
Sie will für religiöse Sportler in aller Welt ein Zeichen setzen.
Deutsch legt Wert darauf, nicht nur für sich und ihr eigenes persönliches Anliegen zu kämpfen. Sie will vielmehr für religiöse Sportler in aller Welt ein Zeichen setzen. »Ich denke, manchmal haben religiöse Teenager das Gefühl: ›Ich kann nicht zum Sport gehen.‹« Dass Glaube aber kein Hindernis darstellt, ist ihre Botschaft. »Ich möchte solchen Menschen einfach Hoffnung und Inspiration geben.«
KARRIERE Vor fünf Jahren erst hat Beatie Deutsch mit dem Laufen begonnen. Da hatte sie vier Kinder, und für ihren allerersten Marathon in Tel Aviv benötigte sie 3:27 Stunden. Ein Jahr später, als sie ihren zweiten Marathon lief, war sie gerade mit ihrem fünften Kind im siebten Monat schwanger: 4:08 Stunden. Ihr Kommentar: »Ich bin eben ein bisschen extrem.«
Danach ging die Läuferinnenkarriere richtig los: 2018 wurde sie schnellste Israelin beim Jerusalem Marathon. Wenige Monate später benötigte sie 2:42 Stunden beim Tiberias Marathon – das fünftbeste Ergebnis, das je von einer israelischen Läuferin erreicht wurde und für Deutsch ihr erster Titel als israelische Meisterin. Grund genug für Beatie Deutsch, ihren Sport professionell zu betreiben. Schon seit 2017 wird sie vom Olympischen Komitee Israels unterstützt, nun kam noch Nike hinzu. 2020 schaffte sie die 42,195 Kilometer in 2:36 Stunden, in diesem Jahr lief sie sogar 2:32 Stunden und hat sich ihren Spitznamen »Speedy Beatie« wacker erarbeitet. Offiziell liegt die Olympianorm bei 2:29 Stunden, da jedoch coronabedingt kaum Qualifikationsrennen stattfinden, würde vermutlich Deutschs Start an der Zeit nicht scheitern.
Ihren Spitznamen »Speedy Beatie« hat sie sich wacker erarbeitet.
Einige Mantras hat Beatie Deutsch auf Bitte des Online-Dienstes »The Mother Runners« formuliert. Eines lautet: »Ich bin eine Mutter, kann alles schaffen.« Ein anderes: »Wenn Gottes Stärke unendlich ist, warum sollte ich mich dann beschränken?« Und ganz wichtig auch dieses: »Mein Glaube treibt mich voran. Wer an sich selbst glaubt, kann alles erreichen.« Beatie Deutsch nimmt diese Glaubenssätze sehr ernst. Dem Magazin »Jewish Chronicle« verriet sie, dass sie beim Aufwärmen vor jedem Training den Morgensegen spricht und während ihrer Läufe einzelnen Abschnitten der Tora lauscht.
alija Seit 2008 lebt Deutsch in Israel. Geboren und aufgewachsen ist sie in Passaic im US-Bundesstaat New Jersey. Nach ihrer Alija arbeitete sie für die Bildungsorganisation Olami, die Studenten mit der Religion und mit Israel vertraut machen will. 2009 hat sie Michael Deutsch geheiratet, einen Jeschiwa-Lehrer, der genauso intensiv dem Radsport nachgeht, wie seine Frau läuft. Nur dass Beatie bald Profi wurde. »Ich habe Glück«, hat sie in einem Interview verraten, »weil es mein Beruf ist, muss ich nicht so viel jonglieren wie andere Mütter, die laufen.«
Zu Deutschs Besonderheiten in der professionellen Läuferszene gehört auch, dass sie ihre Preisgelder spendet. Die Pflegeeinrichtung Beit Daniella im Judäischen Bergland, 15 Autominuten von Jerusalem entfernt, erhält die Unterstützung. Dort werden Jugendliche mit psychischen Problemen behandelt. »Mit Hunde- und Pferdetherapie, einem beruhigenden Ort und einem tollen Team verändert Beit Daniella das Leben von Kindern, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben«, erklärt Deutsch. »Ich wünschte aber, ich müsste kein Geld für dieses unglaubliche Reha-Programm sammeln.«
Ein Olympiastart und die damit gesteigerte Prominenz von Beatie Deutsch dürfte Beit Daniella besonders zugutekommen, auch wenn die außergewöhnliche Läuferin jetzt schon zu einer gewissen Berühmtheit geworden ist. Die »Jerusalem Post« hatte sie 2019 auf ihre Liste der 50 einflussreichsten Juden gesetzt.
TAGESABLAUF Die Aufmerksamkeit, die Deutsch durch ihren neuen Sponsor Adidas erhält, dürfte der Pflegeeinrichtung ebenfalls weitere Unterstützung garantieren. »Ich bin richtig begeistert von der neuen Adidas-Kampagne«, schreibt Deutsch auf Facebook. Und auch, dass die deutsche Firma sie »als stolze orthodoxe jüdische Spitzen-Marathon-Läuferin und Mutter von fünf Kindern unterstützt«, wie Deutsch es formuliert, versetzt sie in Begeisterung. »Wer meint, ich nähme den Mund zu voll, soll doch einfach selbst versuchen, das alles unter einen Hut zu bekommen.«
Während sie läuft, lauscht sie Abschnitten der Tora; vor jedem Training spricht sie den Morgensegen.
An sechs Tagen die Woche steht sie morgens um fünf Uhr auf – und läuft. Bis halb neun ist sie auf Straßen und Wegen von Har Nof unterwegs. Das ist ein Stadtteil von Jerusalem, überwiegend Orthodoxe leben hier. Tagsüber macht sie noch Krafttraining in einem Sportstudio, geht als Ausgleichssport manchmal schwimmen, kümmert sich um das Haus und ihre Kinder, und ganz nebenbei betreut sie noch sehr eifrig diverse Social-Media-Kanäle. Auf Instagram hat Beatie Deutsch 13.000 Follower.
glauben Ihr derzeit wichtigstes Ziel ist Olympia in Tokio. Und dass es dort einen Marathonlauf geben wird, der nicht am Schabbat stattfindet. Damit Deutsch dieses Ziel verwirklichen kann, hat sie sich juristische Unterstützung geholt. Der New Yorker Rechtsanwalt Akiva Shapiro wandte sich ans IOC. »Athleten, die religiös sind, stoßen an eine Art gläserne Decke – ob sie nun jüdisch oder muslimisch oder christlich oder etwas anderes sind«, argumentiert er.
So müssten sie sich zwischen ihrem Glauben und ihrem Sport entscheiden. »Das ist nicht im Einklang mit den olympischen Idealen.« Shapiro verweist auch darauf, dass bei den Spielen 2012 Wettkämpfe zugunsten muslimischer Sportler verschoben wurden, weil Olympia damals mit dem spitzensportunfreundlichen Fastenmonat Ramadan zusammenfiel.
Beatie Deutsch bleibt in all diesen Auseinandersetzungen gelassen. »Zumindest habe ich vielen Juden auf der ganzen Welt gezeigt, dass es in Ordnung ist, seine Meinung zu sagen«, erklärt sie in Hinblick darauf, dass ihr Wunsch nach Verschiebung abgelehnt werden könnte. »Hoffentlich nähern wir uns alle einem Zustand, dass wir toleranter und verständnisvoller sind und die Unterschiede aller akzeptieren können.«
Sie selbst hat in dieser Hinsicht schon viel erreicht. Immer mehr orthodoxe Frauen hätten mit dem Laufen begonnen, hat sie beobachtet. »Einmal sagte mir jemand: ›Ich hätte mir das nie vorstellen können, aber ich habe beim Laufen angefangen, mit Gott zu reden‹«, berichtete Deutsch dem »Jewish Chronicle«. »Da dachte ich mir: ›All right, mein Job hier ist erledigt.‹«