Neun Monate. Zwei Worte mit immenser Symbolkraft. Sie stehen für das Entstehen eines Lebens. »Wie wundervoll ist es, wenn ein Baby nach dieser Zeit das Licht der Welt erblickt.« Orly Gilboa lächelt sanft, als sie daran zurückdenkt: Neun Monate lang trug sie ihre Tochter Daniella unter dem Herzen. Doch hat die positive Bedeutung der Zahl eine kaum zu ertragende Kehrseite: Seit neun Monaten wird diese Tochter mittlerweile von der Hamas im Gazastreifen gefangen gehalten. Ohne jedes Licht der Welt. Und diese neun Monate stehen für die Eltern der weiblichen Geiseln auch symbolisch für den Horror, dass ihre Töchter von den Terroristen vergewaltigt und erzwungen schwanger sein könnten.
Am Dienstag ließen die Eltern von Daniella Gilboa ein Propagandavideo der Hamas aus dem Januar veröffentlichen, um vor dem Hintergrund der aktuellen Verhandlungen in Katar auf die Bedeutung dieser »neun Monate« hinzuweisen. »Es sind sehr schwere Tage«, sagt Orly Gilboa, »denn als Mutter ist es unmöglich, die Gedanken auszuhalten, was mit der eigenen Tochter in diesen neun Monaten geschehen sein könnte«.
Gleichzeitig will die Mutter der 20-Jährigen, die im israelischen Militär (IDF) als Späherin diente, optimistisch sein und drückt sich diplomatisch aus. »Wir haben verstanden, dass ein Deal auf dem Tisch liegt. Wir wissen auch, dass beide Seiten diesen Deal wollen, obwohl es manchmal Parteien gibt, die es schwer machen.« In diesem Zusammenhang ruft die verzweifelte Mutter »Premierminister Benjamin Netanjahu und die gesamte Regierung auf, Stärke zu zeigen und das Abkommen zuzulassen«. Denn: »Neun Monate sind zu viel.«
»Humanitäre« Geiseln: Frauen, Alte und Kranke
Während die Familien und Freunde der Geiseln weiterhin für die Freilassung ihrer Liebsten kämpfen, ist Mossad-Direktor David Barnea zu einem Vierergipfel nach Katar gereist. Begleitet wird er von Ronen Bar, Direktor des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, und Nitzan Alon, der als Ansprechpartner der Armee in Geiselfragen fungiert. Sie treffen sich mit CIA-Direktor William Burns, dem katarischen Premierminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani und dem Chef des ägyptischen Geheimdienstes, Abbas Kamel. »Es werden enorme Anstrengungen unternommen, und es besteht eine echte Chance, eine Einigung zu erzielen«, zitierte der israelische Channel 12 eine hochrangige Quelle innerhalb des Verhandlungsteams.
In den Gesprächen geht es um den jüngsten israelischen Vorschlag, den US-Präsident Joe Biden im Mai vorgestellt hatte. Es hieß, dass man sich weitgehend über ein dreistufiges Abkommen einig sei. Dieses sieht in der ersten Phase eine 42-tägige Kriegspause vor sowie die Freilassung »humanitärer« israelischer Geiseln, womit Frauen, Alte und Kranke gemeint sind. Es bestehe auch Einigkeit darüber, dass es keine vorweggenommene Verpflichtung Israels zur Beendigung des Krieges geben werde. In diesem Punkt habe die Hamas jüngst angeblich Flexibilität gezeigt.
Shlomi Berger ist der Vater von Agam Berger. Die Teenagerin ist 19 Jahre alt. Wie Daniella wurde auch sie aus der IDF-Basis Nahal Oz von Hamas-Terroristen verschleppt. »Jeder will, dass dieser Krieg endet, die internationale Gemeinschaft, wir, die Palästinenser«, macht er klar. »Doch dafür müssen die Geiseln freikommen, das hat Vorrang vor allem.«
»In dem Moment wusste ich nicht, was besser ist, dass sie sie kidnappen oder dass sie sie töten.«
Meirav Leshem-Gonen
Ende November war eine junge Geisel mit demselben Vornamen wie Bergers Tochter im Rahmen eines Deals freigelassen worden: Agam Goldstein-Almog. Einer der ersten Anrufe, den sie in Freiheit tätigte, galt Shlomi Berger. »Ich musste Sie zu Ihrem Geburtstag anrufen. Ihre Tochter bat mich, Ihnen zu gratulieren«, sagte die junge Frau ins Telefon. Berger stieß einen Schrei aus, als ihm klar wurde, dass er gerade eine Nachricht von seiner Tochter erhielt. »Am 20. August wird Agam 20 Jahre alt. Und ich möchte sie wieder im Arm halten. Endlich! Ich will keine Glückwünsche nach Gaza senden.«
Die fürchterlichen Gedanken an die »neun Monate« muss er verdrängen, »sonst gehe ich kaputt und kann nicht mehr kämpfen«. Für seine Tochter müsse er aber stark sein, denn niemand sonst könne es. Es fällt dem Vater sichtlich schwer, darüber zu sprechen. »Uns ist das Unfassbarste geschehen, das, was man sich nie vorstellen konnte. Und doch kann ich nicht dauerhaft daran denken, was ihr gerade geschehen mag. Wird sie geschlagen, hält ihr jemand ein Messer an die Kehle, wird sie in diesem Moment ermordet? Das ist schlicht menschenunmöglich.«
Weitere Schichten im Trauma
Einat Yehene, Rehabilitationspsychologin und Leiterin der Rehabilitation beim Forum für Familien von Geiseln und Vermissten, erklärt, dass eine derartige Gefangenschaft ohnehin schwerwiegende physische und psychische Folgen haben kann, und dass eine erzwungene Schwangerschaft diesem Trauma viele weitere Schichten hinzufügen würde. »Sowohl für die Geiseln als auch für die Familien.« Darüber hinaus würden die katastrophalen Lebensbedingungen in der Gefangenschaft in Gaza Schwangere einem großen Gesundheitsrisiko aussetzen.
Yehene betont auch die extrem belastenden Gefühle der Scham, die es mit sich bringen könnte: »Eine Schwangerschaft ist etwas, das man sieht, und damit könnte das persönliche Trauma, das den Frauen widerfahren ist, der Öffentlichkeit präsentiert werden, ohne dass es jemand kundtut.« Davor müssten die freigelassenen Geiseln auf jeden Fall geschützt werden, »um ihre Würde und Privatsphäre zu bewahren und um den Heilungsprozess zu ermöglichen«. Die intensive psychologische Betreuung durch Traumaspezialisten müsse ihrer Meinung nach nicht nur den betroffenen Frauen, sondern auch den Familien zur Verfügung stehen.
Auch Meirav Leshem-Gonens Tochter wurde nach Gaza verschleppt. Die 23-jährige Romi Gonen wurde auf dem Nova-Festival von der Hamas gekidnappt. Meirav Leshem-Gonen hat fünf Kinder, drei Töchter und zwei Söhne. »Ich habe alle meine Kinder so erzogen, dass sie Grenzen ziehen und sagen: ›Dies ist mein Körper, darüber entscheide ich.‹ Diese Freiheit ist Romi am 7. Oktober genommen worden.«
Zeugin ihrer Qualen
Romi war am 7. Oktober die einzige Überlebende in einem Auto mit drei weiteren Insassen. Ihr wurde von Terroristen in den Arm geschossen. »Ich war mit ihr am Telefon, als sie meine Tochter an ihren wunderschönen langen Haaren aus dem Fahrzeug rissen und über den Boden zerrten.« Sie sei eine Zeugin ihrer Qualen geworden. Die Stimme der Mutter wird leise, fast ein Flüstern. »In diesem Moment wusste ich nicht, was besser ist, dass sie sie kidnappen oder dass sie sie töten. Das habe ich gedacht. Ich, als Mutter …«
Der Deal müsse jetzt zustande kommen, fordert sie. »Es kann nicht sein, dass die Körper von Frauen als politisches Werkzeug missbraucht werden. Das ist eine Schande für uns alle.« Es sei die Verantwortung der freien Welt, gegen das »absolut Böse der Hamas« aufzustehen und Druck für ein Abkommen zu machen. »Neun Monate sind viel zu lang – besonders für Frauen. Sie müssen nach Hause kommen. Jetzt!«