Mirjam Bolle, Zeitzeugin des Holocausts und letzte Überlebende des Amsterdamer »Judenrates«, wird am 20. März 108 Jahre alt. Sie lebt seit 1944 in Israel und gilt als die älteste Überlebende des Holocausts. Die Jewish Claims Conference schätzt die Zahl der Überlebenden derzeit auf 220.000 weltweit. In Deutschland sind die ältesten Überlebenden Margot Friedländer (103) und Albrecht Weinberg (100).
Geboren 1917 in Amsterdam als Mirjam Sophie Levie ließ sie sich zur Sekretärin ausbilden. Als orthodoxe Jüdin und Zionistin plante sie, mit ihrem Verlobten Leo Bolle nach Palästina auszuwandern. Leo ließ sich 1939 dort nieder, in der Absicht, dass sie sich ihm bald anschließen würde. Doch die deutsche Besetzung der Niederlande im Mai 1940 machte die gemeinsamen Pläne zunichte.
Sekretärin im Amsterdamer »Judenrat«
Ab 1941 arbeitete sie als Sekretärin im Amsterdamer »Judenrat« (Joodse Raad voor Amsterdam), einer Einrichtung der deutschen Besatzungsmacht zwischen 1941 und 1943. Nach dem Krieg wurden die beiden Vorsitzenden David Cohen und Abraham Asscher dafür kritisiert, dass sie sich nicht stärker für den Schutz der Gemeinschaft eingesetzt hätten. Drei Viertel der jüdischen Bevölkerung der Niederlande starb im Holocaust.
»Sie dachten damals, sie könnten einen Deal mit den Nazis machen und die Deportation der Juden so lange wie möglich hinausschieben«, sagte Bolle 1995. »Sie dachten, sie würden das Richtige tun.« Mittlerweile wird das Handeln des Amsterdamer »Judenrates« aufgrund neuerer wissenschaftlicher Forschungen weniger kritisch gesehen.
Als Mitglied des »Judenrates« war Mirjam Levie zunächst von der Deportation ausgenommen, wurde aber 1943 während einer Razzia erst ins Sammellager Westerbork, dann im Januar 1944 ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Sechs Monate später kam sie frei im Rahmen des einzigen Gefangenenaustauschs in das britisch besetzte Palästina.
Tagebuch-Briefe für ihren Verlobten Leo
Während der Zeit der Trennung schrieb sie für ihren Verlobten Leo Bolle Tagebuch-Briefe, in denen sie die politische Situation und das Schicksal derer, die sie kannten, beschrieb. Ihre Briefe gelten als wichtiger Augenzeugenbericht über die Vernichtung des niederländischen Judentums während des Krieges und als der einzige Bericht, der vor der Befreiung unter großer persönlicher Gefahr aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen herausgeschafft wurde.
Die Briefe, die sie nicht losschicken konnte, werden heute im Amsterdamer Institut für Kriegs-, Holocaust- und Völkermordforschung (NIOD) verwahrt. Veröffentlicht wurden sie 2003 unter dem Titel: »Ik zal je beschrijven hoe een dag er hier uitziet«, 2006 auf Deutsch: »Ich weiß, dieser Brief wird Dich nie erreichen«. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen.
Ein neues Leben in Israel
Nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft im damals britischen Mandatsgebiet Palästina heiratete Mirjam Levie ihren Verlobten Leo Bolle, der nach der Auswanderung den Namen Menachem Elyakim Bolle führte und 1992 starb. Sie bauten sich in Israel eine Existenz auf. Zwei ihrer drei gemeinsamen Kinder starben Ende der 1960er Jahre im Einsatz für die israelische Armee, auch ihr drittes Kind ist bereits 2011 verstorben.
Im September 2024 wurde Mirjam Bolle für ihre Bemühungen, die Menschen über die deutsche Besatzung der Niederlande (1940-1945) aufzuklären, mit einer der höchsten Auszeichnungen der Stadt Amsterdam geehrt, dem Andreaspenning.