Falls Isaac Herzog recht behält, erwartet Israel in den nächsten Jahren eine Einwanderungswelle, wie das Land sie lange nicht gesehen hat: Eine Viertelmillion Menschen, sagte der Vorsitzende der Jewish Agency kürzlich voraus, könnten in den nächsten drei bis fünf Jahren Alija machen. Ausgehend von Israels derzeitiger Bevölkerung von neun Millionen bedeutete das ein Plus von fast drei Prozent – auf Deutschland umgerechnet wäre das ein Bevölkerungszuwachs von 2,3 Millionen.
»Unser Callcenter wird überschwemmt«, berichtete Herzog Anfang Juli während einer Sitzung des Knesset-Ausschusses für Einwanderung, Integration und Diaspora-Angelegenheiten, wie »Haaretz« berichtete. »Das ist eine historische Herausforderung, die wir nutzen müssen, und die Regierung muss diese Gelegenheit begreifen und ein nationales Programm zur Aufnahme dieser Einwanderungswelle vorbereiten.« In den vergangenen Jahren zogen lediglich etwa 30.000 Menschen mit jüdischen Wurzeln pro Jahr nach Israel.
ERFOLG Das gestiegene Interesse an der Alija begründete Herzog damit, dass Israel im Kampf gegen das Covid-19-Virus als vergleichsweise erfolgreich wahrgenommen werde. Tatsächlich hatte das Land zu Beginn der globalen Gesundheitskrise als Vorbild im Pandemie-Management gegolten: Eine Analyseagentur namens Deep Knowledge Group hatte im April Staaten rund um die Welt gemäß ihren Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz vor der Krankheit bewertet und Israel dabei mit dem ersten Platz ausgezeichnet.
Der jüdische Staat hatte früher als die meisten anderen Länder strikte Reise- und Ausgangssperren beschlossen sowie geheimdienstliche Tracing-Technologie zum Nachvollziehen von Infektionsketten eingesetzt, womit sich die Ausbreitung des Virus vorerst aufhalten ließ. Mitte Mai sank die Zahl der täglich registrierten Neuinfizierten in den unteren zweistelligen Bereich. Seitdem steigen die Zahlen jedoch wieder. Mitte Juli beschloss die Regierung neue Einschränkungen des öffentlichen Lebens.
Antisemitismus steht als Grund für die Einwanderung erst an dritter Stelle.
Insofern überrascht das optimistische Szenario. Und tatsächlich liegen aufgrund der Pandemie und den zu ihrer Eindämmung beschlossenen Maßnahmen die Einwanderungszahlen in diesem Jahr bisher erheblich unter denen des Vorjahres: In der ersten Jahreshälfte 2019 machten 18.130 Menschen Alija, während in diesem Jahr im gleichen Zeitraum lediglich 8568 Olim eintrafen. Strenge Einreisebeschränkungen sind schon seit März in Kraft, zudem müssen alle aus dem Ausland nach Israel Einreisenden sich zu einer zweiwöchigen Heimquarantäne verpflichten.
olim »Die Olim sind unter sehr schwierigen Umständen hergekommen«, berichtet Shay Felber, stellvertretender Generaldirektor der Jewish Agency in Israel, der außerdem der Abteilung für Einwanderung und Integration vorsitzt. »Das Problem ist nicht nur der Flug. In Israel müssen sie in Quarantäne, dann müssen sie eine Unterkunft finden. Wegen Corona ist derzeit alles komplizierter als sonst.«
Viele der bisherigen Neuankömmlinge hätten ihre Alija bereits Monate, wenn nicht Jahre im Voraus geplant. Dass allen Widerständen zum Trotz Tausende in den vergangenen Monaten nach Israel gezogen sind, wertet Felber als großen Erfolg. »Wir sind stolz darauf, dass die Alija nie abgerissen ist.«
Und in den nächsten Monaten könnte sie sogar wieder wachsen. Auch Felber berichtet von einem drastischen Anstieg telefonischer Anfragen. Die meisten Interessenten kommen demnach aus den USA, Frankreich und Südamerika, dort vor allem aus Argentinien. Zum Vergleich: 2019 eröffneten 281 Amerikaner in der ersten Jahreshälfte eine sogenannte »Alija-Akte« bei der Agency. In diesem Jahr schnellte die Zahl im gleichen Zeitraum auf 3236 hoch.
»Wir sehen zwei wesentliche Gründe, warum die Menschen so interessiert an der Alija sind«, sagt Felber. »Einer ist ökonomischer Natur: Viele suchen nach einer neuen Zukunft. Etliche haben ihren Job oder ihr Geschäft verloren, und sie sagen sich: Israel ist eine gute Option für mich, dort kann ich ganz von vorn anfangen.«
GRUPPEN Der zweite Grund sei das israelische Gesundheitssystem, das zahlreiche Alija-Interessierte dem System ihres Heimatlandes für überlegen halten. Zwar kritisieren viele Israelis die medizinische Infrastruktur ihres Landes als überlastet und unterfinanziert. Doch die Ärzte sowie die technische Ausstattung genießen zu Recht einen hervorragenden Ruf. »Für jemanden, der beispielsweise aus Argentinien kommt«, sagt Felber, »ist Israels öffentliches Gesundheitssystem sehr gut.«
Viele wollen nach dem Verlust ihres Jobs in Israel neu anfangen.
Ein dritter, wenn auch weniger verbreiteter Grund schließlich sei der Antisemitismus: Seit dem Ausbruch der Pandemie kursieren in etlichen Ländern Verschwörungstheorien, die die Juden als heimliche Architekten der Krise verunglimpfen. »Manche Leute haben damit einen weiteren Grund gefunden, Juden zu hassen.«
Unter den potenziellen Einwanderern hat Felber drei Gruppen ausgemacht. »Die größte besteht aus jungen Leuten, die gerade die Universität abgeschlossen haben. Für sie ist es leichter, Alija zu machen, weil sie noch keine Familie haben.« Häufig vertreten sind außerdem junge Familien mit einem bis zwei Kindern. »Sie sagen sich: Wenn wir es nicht jetzt tun und warten, bis die Kinder größer sind, wird es schwieriger.« Eine dritte, kleinere Gruppe stellen Rentner dar: »Viele von ihnen haben Verwandte in Israel und wollen näher bei der Familie leben.«
engagement Angesichts der vielen Neuankömmlinge, die die Agency in den kommenden Jahren erwartet, wünscht Felber sich ein stärkeres Engagement vonseiten der Regierung: Der Staat sollte zukünftige Olim stärker dabei unterstützen, Anstellungen, Aus- oder Weiterbildungen und Unterkünfte zu finden – aus ureigenem Interesse. »Für die Regierung ist Alija ein Vorteil«, glaubt Felber. Schließlich brauchen die Neuankömmlinge Wohnungen, sie konsumieren, manche bringen begehrte Expertise mit. »Eine Investition in Olim ist eine Investition in die israelische Wirtschaft.«
Doch Israels bekanntester Demografie-Experte, Sergio DellaPergola, dämpft den Optimismus. In einem Interview mit »Haaretz« sagte er voraus, dass in den kommenden Jahren viele Israelis aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und politischer Unzufriedenheit das Land verlassen würden. »Und das werden vor allem junge und gut ausgebildete Menschen sein.«