Bis zum 15. Juni galt Mohammad el-Halabi als unbescholtener Funktionär einer internationalen Hilfsorganisation. Als Vertreter von World Vision war er im Gazastreifen ein Mann, der über viel Geld verfügte und damit Dinge in Bewegung setzen konnte. Doch seit dem Tag, an dem ihn israelische Sicherheitskräfte am Eres-Kontrollpunkt festnahmen, gilt Mohammad el-Halabi als der Mann, der fast 50 Millionen Euro von World Vision statt für die Ernährung von Kindern und den Bau von Schulen für Waffenkäufe und zur weiteren Finanzierung des Hamas-Terrors verwendet haben soll.
Ein Desaster für World Vision. Die »christliche Hilfsorganisation mit den Arbeitsschwerpunkten nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe« (Selbstdarstellung) gehört zu den größten Hilfsorganisationen der Welt, kooperiert mit den UN und ist in über 100 Ländern mit einem Budget von 2,6 Milliarden Dollar und 46.000 Angestellten aktiv.
Sollten die Vorwürfe zutreffen, hätte ihr Projektleiter el-Halabi 60 Prozent der Gelder, die World Vision für den Gazastreifen zur Verfügung stellt, an die Hamas weitergeleitet. Nach israelischen Angaben sind 1,5 Millionen Dollar jährlich in bar an die Kampfeinheiten der Terrororganisation geflossen, weitere vier Millionen, die für Bedürftige im Gazastreifen bestimmt waren, wurden zum Bau von Terrortunneln und den Kauf von Waffen weitergeleitet.
SYSTEM Israel wirft el-Halabi vor, mit einem ausgeklügelten System die Gelder unterschlagen und an den Kontrolleuren von World Vision vorbei an die Hamas geleitet zu haben: Familien von Terroristen sollen unter anderem ihre Kinder als verletzt registriert haben, um Gelder zu kassieren, Hamas-Aktivisten sollen bei World Vision angestellt und Bauunternehmen erfunden worden sein, um Geld zu waschen. Bau- und Projektkosten sollen künstlich in die Höhe getrieben worden sein, um an Gelder für den Kampf gegen Israel zu kommen.
Nach Ansicht von Dore Gold, Generaldirektor im Jerusalemer Außenministerium, ist das ein Vorgang, der von der internationalen Gemeinschaft nicht hingenommen werden kann: »Angesichts der gefährlichen Entwicklungen appelliere ich an alle, Israel zu unterstützen und die Terrororganisation Hamas davon abzuhalten, die Sicherheit, Stabilität und das Wohlergehen von Israelis und Palästinensern zu gefährden.«
BUNDESREGIERUNG Von dem Untreueverdacht gegen den Mitarbeiter von World Vision sei auch die Bundesregierung betroffen, weil sie die Hilfsorganisation aus Steuermitteln unterstütze, erklärte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck in Berlin. Das Auswärtige Amt müsse die Mittelvergabe und -verwendung an World Vision dringend überprüfen, forderte Beck. »Es darf keine indirekte Unterstützung der Hamas aus deutschem Steuergeld geben.«
Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes sagte in Berlin, das man die erhobenen Vorwürfe sehr ernst nehme. »Wenn sich die Vorwürfe bestätigen, würde dies zeigen, dass die Hamas noch nicht einmal davor zurückschreckt, die so dringend gebotene humanitäre Unterstützung für die Menschen im Gazastreifen aus der internationalen Gemeinschaft mutwillig aufs Spiel zu setzen.« Das Auswärtige Amt werde bei abgeschlossenen Projekten im Lichte der nun bekannt gewordenen Anschuldigungen prüfen, ob es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Bei einem laufenden Projekt mit dem Ziel der psychosozialen Betreuung von Kindern in Gaza würden keine Auszahlungen erfolgen, solange die Vorwürfe nicht ausgeräumt seien und sichergestellt sei, dass die Mittel ordnungsgemäß eingesetzt werden.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) fördert seit 1. Juni ein Projekt von World Vision in Gaza. Dabei gehe es um Unterstützung von Bauern in Höhe von knapp 1,5 Millionen Euro. Bislang seien noch keine Mittel ausgezahlt worden, und als Reaktion auf die Vorwürfe werde es bis auf weiteres für dieses Projekt auch keine
Mittelauszahlungen geben, sagte eine Sprecherin des Ministeriums: »Sollten sich die Vorwürfe als korrekt herausstellen, setzt die Hamas die Versorgungssicherheit ihrer eigenen Bevölkerung mutwillig aufs Spiel. Die Versorgung des Gazastreifens ist ohne internationale Unterstützung nicht möglich. Wir fordern die Hamas auf, solche Praktiken zu unterlassen und den Waffenstillstand mit Israel nicht durch Aufrüstungsbemühungen zu unterminieren.«
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, bezeichnete es als »skandalös«, dass von umgeleiteten Hilfsgeldern eine direkte Gefahr für die Sicherheit und Existenz Israels ausgehe. »Eigentlich hätten die Gelder bedürftigen Kindern in Gaza zugutekommen sollen. Von der Hilfsorganisation World Vision erwarte ich, dass sie genau prüft, mit welchen Partnern und Mitarbeitern sie zusammenarbeitet«, sagte Schuster.
BETROFFENHEIT Die Hilfsorganisation mit Sitz in Friedrichsdorf im Taunus zeigte sich tief betroffen über die Vorwürfe. »Wir sind ziemlich schockiert«, sagte Pressesprecherin Silvia Holten. Bisher hätten die israelischen Behörden jedoch keine Beweise vorgelegt.
World Vision arbeitet seit 40 Jahren im Gazastreifen. Zurzeit würden dort 40 Kinderschutzzentren unterhalten, in denen rund 10.000 Kinder betreut würden, darunter viele mit Traumatisierungen, sagt Holten. Außerdem würden Bildungs-, Gesundheits- und Landwirtschaftsprojekte unterstützt. Das Jahresbudget für Gaza habe in den vergangenen zehn Jahren zwischen vier und sechs Millionen US-Dollar gelegen, so die Sprecherin. Alle Überweisungen nach Gaza seien nun gestoppt worden.
Der Organisation lägen allerdings trotz strengster Kontrollen keine Hinweise auf Veruntreuungen vor. Deshalb gelte für den Mitarbeiter bis zu seiner Verurteilung anhand klarer Beweise die Unschuldsvermutung. Alle Beteiligten arbeiteten mit Hochdruck daran, die Sache aufzuklären.
Unterdessen wurde Mohammad el-Halabi von einem israelischen Bezirksgericht angeklagt und wartet auf seinen Prozess. Er soll gestanden haben, seit seiner Jugend Mitglied der Hamas gewesen und dort auch militärisch ausgebildet worden zu sein. Die Hamas habe ihn sogar gezielt in die internationale Hilfsorganisation eingeschleust. (mit epd)