Wenn Lamya Bashar Taha erzählt, schaut sie oft auf ihre Hände oder auf den Boden, fast so, als suchte sie irgendwo Halt. Dann wieder sieht die Jesidin ihrem Gegenüber direkt in die Augen, als wollte sie die Bedeutung ihrer Geschichte unterstreichen. Es ist ihre persönliche Geschichte – und die ist so voll unvorstellbarer Grausamkeit, dass es schwer fällt, sich nicht abzuwenden, um nicht in die Realität hinter diesem traurigen und vernarbten Gesicht blicken zu müssen.
Die junge Frau sitzt auf dem Campus der israelischen Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan und erzählt von ihren Erlebnissen als Sklavin des Islamischen Staates (IS). Sie ist Teil einer Delegation von 15 Frauen, die in einer geheimen Aktion dorthin gekommen sind, um an einem Seminar über spezielle Traumabewältigung teilzunehmen.
GENOZID Die unermüdlichen freiwilligen Helfer von IsraAID haben sie hierhergebracht. »Wir sind an verrückte Projekte gewöhnt«, sagt der Vize-Chef der Organisation, Yotam Polizer, während der Abschlusszeremonie, »aber bei diesem haben wir gedacht, das klappt nie.« Nach langer Organisation hatten sie Erfolg, und damit, ist er sicher, sei die größte Gruppe irakischer Jesiden, Kurden und Christen aller Zeiten nach Israel gekommen.
IsraAID arbeitet seit 2014 im Irak und hat seitdem etwa 20 israelische Experten, die über eine weitere Staatsbürgerschaft verfügen, in den Irak gesandt, »um den Überlebenden des Genozids zu helfen«, wie Polizer berichtet. »Es war schnell klar, dass psychologische Unterstützung und Traumabehandlung am meisten benötigt werden.« Doch es soll nicht bei dem zweiwöchigen Seminar bleiben. »Wir arbeiten langfristig, planen, die Teilnehmerinnen online weiter zu betreuen und auch andere Gruppen herzubringen.«
Lamya und ihre Schwester wurden fast zwei Jahre lang als Sex-Sklavinnen gehalten.
Das ist ganz im Sinne der drei Initiatoren des Projekts, die sich vor etwa zwei Jahren mit ihrer Idee, die Schulung zu veranstalten, an IsraAID wandten: Yaakov Hoffman, klinischer Psychologe, Amir Shrira, ebenfalls Psychologe, und der Gehirnforscher Ari Zivotofsky. Alle erforschen die Auswirkungen der Traumata bei jesidischen Frauen und boten an, ein Seminar für die Behandlung von C-PTSD (komplexes posttraumatisches Stresssyndrom) zu veranstalten. Die Professorin Marylene Cloitre aus Kalifornien, die eine spezielle Therapie entwickelt hat, vermittelte ihr Wissen den Frauen persönlich.
Zustande kam das Gemeinschaftsprojekt erst durch die besondere Unterstützung des jesidischen Arztes und Menschenrechtlers Mirza Dinnayi, den Professor Zivotofsky als »wahren Freund und Gerechten der Völker« bezeichnet. Dinnayi lebt heute in Deutschland.
Nach Seminarende wurde allen Teilnehmerinnen feierlich eine Urkunde von Universitätspräsident Arie Zaban sowie dem Menschenrechtler und israelischem Politiker Natan Sharansky überreicht. Doch in den zwei Wochen studierten die Frauen nicht nur, sondern sie lernten auch Land und Leute kennen.
Die Delegation besuchte die Strände von Tel Aviv, die Bahai-Gärten in Haifa, Yad Vashem, wurde vom Präsidenten Reuven Rivlin und der deutschen Botschafterin Susanne Wasum-Rainer empfangen. Professor Zivotofsky betonte, wie viel das israelische Team von den jungen Irakerinnen gelernt habe. »Als sie sagten, dass sie eine außergewöhnliche Verbindung mit dem israelischen Volk spüren, hat das unsere Herzen berührt.«
»Ich will über meine Geschichte sprechen, damit es anderen nicht geschieht«, sagt Lamya leise.
Doch die Freundschaft muss geheim bleiben. Außer Taha darf keine der Teilnehmerinnen namentlich genannt oder im Bild gezeigt werden. Sie alle müssen wieder zurück in ihre Heimat: den Irak. Die jungen Frauen sind Jesidinnen oder Christinnen und haben die unterschiedlichsten Berufe: Ärztin, Englischlehrerin, Computerspezialistin, Psychologin, Finanzexpertin. Doch alle haben eines gemeinsam: Sie arbeiten für humanitäre Organisationen in Flüchtlingslagern im Irak, die den Überlebenden des IS-Terrors helfen.
FLUCHT Als Lamya 15 war, überfielen Kämpfer des Islamischen Staates ihr Dorf Kocho in der Nähe der Stadt Sinjar, ermordeten die meisten Männer und verschleppten die Frauen. Ihr Vater und zwei Brüder wurden sofort hingerichtet. Lamya und ihre Schwester wurden von Kämpfern verschleppt und als Sex-Sklavinnen gehalten. Ein Jahr und acht Monate lang. Sie erinnert sich nicht mehr, wie oft sie versucht hat, wegzulaufen oder sich das Leben zu nehmen. »Aber ich habe immer überlebt.«
Später sah sie es als ein Zeichen von Gott, dass sie Zeugin dieser Gräueltaten wurde und es der Welt berichten soll. Der letzte Fluchtversuch in einer regnerischen Nacht hatte Erfolg. Doch die beiden Mädchen, die mit ihr fliehen wollten, starben, als sie auf Minen traten. Zumindest nimmt Lamya das an, denn sie hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Von diesem Fluchtversuch stammen die Narben im Gesicht und die Verletzung an ihrem Auge.
Sacharow-Preis »Ich will aus meiner Geschichte etwas Positives ziehen und darüber sprechen, damit es anderen nicht geschieht«, sagt sie mit leiser, doch fester Stimme und voller Überzeugung. Dann erinnert sie an die etwa 3000 Frauen und Kinder, die noch vermisst werden. »Viele von ihnen werden sicher weiter als Sklaven gehalten. Doch wer spricht über sie?« 2016 erhielt Lamya vom Europäischen Parlament den Sacharow-Preis für ihre humanitäre Arbeit.
Die 20-Jährige hat Schreckliches überlebt. Heute ist sie nicht mehr im Irak, sondern lebt seit drei Jahren in der deutschen Stadt Ulm. Sie gehört zu einem speziellen Rehabilitationsprogramm für 1100 Frauen und Kinder, die den IS-Terror überlebt haben. Sie hat Deutsch gelernt, beeindruckend fließend nach nur wenigen Monaten Unterricht. Nach dem Sommer wird sie wieder zur Schule gehen und die verlorenen Jahre nachholen. Darauf freut sie sich. Zum Abschied dreht sie sich noch einmal um, sodass ihr Blumenkleid weht. Lächelnd ruft sie auf Deutsch: »Tschüss! Vielleicht bis bald.«