Tel Aviv

Heilsame Orte

Die amerikanische Kundin kehrt zurück an den Tresen. Sie hat einige Schokoladenpralinen probiert und möchte noch mehr kaufen. Sie schwärmt: »They are to die for« – »zum Sterben gut«. »Oh nein!«, ruft Re’ut Karp, die Eigentümerin des Cafés, die die Süßigkeiten einpackt. Die 42-Jährige tritt hinter der Theke hervor, schließt die fremde Frau in die Arme, lächelt herzlich und sagt: »Hier sprechen wir nicht vom Sterben. Es ist ein Ort zum Leben.«

Und das, obwohl alle zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem Tod in die Augen geblickt haben. Sie sind Überlebende aus dem Kibbuz Re’im, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas überfallen wurde. Die Terroristen töteten sieben der 450 Mitglieder, darunter Re’ut Karps ehemaligen Mann, Geschäftspartner und Vater ihrer drei Kinder, Dvir Karp. In der Nähe des Kibbuz massakrierte die Hamas mindestens 364 Menschen auf dem Nova-Musikfestival.

Der verheerende Angriff der Terroristen hat das ganze Land zutiefst erschüttert. Doch am stärksten betroffen sind die Bewohner des Otef. Das Wort bedeutet »Umland« und steht für die Orte, die innerhalb eines Umkreises von wenigen Kilometern am Gaza­streifen liegen. Viele der Menschen haben Angehörige oder Freunde verloren, die ermordet oder verschleppt wurden; ihre Häuser sind verwüstet, niedergebrannt, ganze Dörfer zerstört. Statt wie in ihrem ehemaligen Leben in ländlichen und landwirtschaftlich geprägten Ortschaften wohnen die meisten von ihnen nun in Hotels oder Apartmentkomplexen in Städten.

Café Otef ist ein Projekt für die am stärksten vom Hamas-Massaker betroffenen Gemeinden

Café Otef ist ein Projekt für die am stärksten vom Hamas-Massaker betroffenen Gemeinden und wird ausschließlich von den Vertriebenen bewirtschaftet. Hier finden sie Beschäftigung, treffen sich und verdienen ihren Lebensunterhalt. Sieben Cafés sind geplant, zwei gibt es bereits: Re’im im südlichen Tel Aviver Viertel Florentin und Netiv Ha’asara im Sarona-Komplex, ebenfalls in Tel Aviv.

Ein Ziel der Cafés ist es, die Gastgeber-Orte mit den geschundenen Gemeinden zu verbinden. Die Gemeinschaft und die Geschichte der Kibbuzim sollen bewahrt und geteilt werden. Zunächst wird jedes Café in den temporären Wohnorten eröffnet und soll später mit den Bewohnern umziehen können, wenn sie in ihre Heimatgegend zurückkehren. Finanziert werden sie von israelischen Banken und vom Tech4Israel-Fonds, den führende Hightech-Firmen nach dem 7. Oktober gegründet haben. Initiiert hat das Projekt der Unternehmer Tamir Berlko, Gründer der Arcaffé-Kette. »Die Idee für ›Café Otef‹ entstand aus dem Grundbedürfnis der Gemeinden, eine vereinte Gruppe zu bleiben, während sie in ihren neuen vorübergehenden oder dauerhaften Häusern eine Routine aufbauen.«

Insgesamt sind sieben Cafés geplant, zwei gibt es bereits.

Die Markenzeichen der Cafés sind rote Anemonen. Im Süden Israels überziehen sie jeden Winter die Felder wie ein leuchtender Blumenteppich. Seit dem Überfall haben sie eine tiefere Bedeutung: »Wir werden wiederer­blühen« ist das Motto der Gemeinden des Südens geworden. Die Anemonen, für andere auch Zeichen der Solidarität, gibt es als Keramikschalen, auf T-Shirts gedruckt, auf Baseballkappen, Stoffbeuteln und Trinkflaschen. Neben Kaffee, Sandwiches und Gebäck werden Spezialitäten angeboten, die in der südlichen Region hergestellt werden wie Weine, Marmeladen, Oliven und Käse aus dem Kibbuz Be’eri.

Zum Sortiment der Re’im-Filiale gehört auch »Dvir Chocolates«, Pralinen nach Rezepten von Dvir Karp. Er war bekannt als »Schokoladenmann des Otef«. Gemeinsam mit seiner Exfrau und einem Kollegen betrieb er einen Laden im Kibbuz Magen. Hier, im Tel Aviver Café, ist er allgegenwärtig, obwohl er nicht mehr lebt. Über der Schokoladentheke auf einem Regal steht ein Foto von ihm mit seinen Süßigkeiten. Re’ut deutet nach oben: »Er ist im Hintergrund immer bei uns.«

Dvir Karp und seine Lebensgefährtin Stav Kimchi wurden am 7. Oktober vor den Augen seiner Kinder erschossen

Der 47-Jährige und seine neue Lebensgefährtin Stav Kimchi wurden am 7. Oktober vor den Augen zweier seiner Kinder erschossen: Daria, zehn Jahre, und Lavi, acht, der eine Autismus-Spektrum-Störung hat. Nachdem die Terroristen die Erwachsenen ermordet hatten, schrieb einer von ihnen mit Lippenstift zynisch auf die Wand: »El-Kassem tötet keine kleinen Kinder« und verschonte die beiden, die sich zitternd unter einer Wolldecke versteckt hatten.

Re’ut Karp war zu diesem Zeitpunkt bei einer Freundin im Zentrum des Landes. »Drei Stunden lang telefonierte ich mit meiner Tochter Daria. Ich versuchte, sie zu beruhigen, und habe gemeinsam mit ihr geatmet«, erzählt sie auf einem Hocker im Café sitzend. Ihre Tochter habe gehört, dass noch immer Terroristen im Haus seien. Sie beschwor die Zehnjährige, leise zu sein, und versuchte währenddessen unentwegt, über Sicherheitskräfte und die WhatsApp-Gruppe des Kibbuz Hilfe für ihre beiden Kinder zu bekommen. »Wir hielten die Leitung die ganze Zeit offen. Ich in Yehud und Daria im belagerten Haus.«

Bis schließlich ihr Schutzengel kam, Golan Spaton, der Nachbar, der zum Kibbuz-Sicherheitsteam gehörte. »Er rannte ins Haus und blieb mit den Kindern dort für weitere neun Stunden. Er riskierte sein Leben für meine Kinder«, sagt sie und ist für einen Moment ganz still. »Als es etwas sicherer war, rettete Golan sich, Daria und Lavi durchs Fenster und flüchtete in den Sicherheitsraum seines Hauses, wo sie sich versteckten, bis die Armee kam.« Die Geschichte ging um die Welt.

»Mit seinen Schokoladen brachte Dvir den Menschen Freude«

»Mit seinen Schokoladen brachte Dvir den Menschen Freude.« Re’ut zeigt stolz die Theke voller Süßigkeiten. »Das soll so weitergehen.« Auf den Tüten, in denen die Pralinen verpackt werden, klebt ein Sticker. Darauf ist ein Kreis gedruckt, mit einem Riss in der Mitte. Der Riss ist mit Gold verschlossen, so wie es in der japanischen Tradition des Kintsugi üblich ist. Es stehe symbolisch für den Heilungsprozess im Leben.

Zu heilen gibt es viel. Daria und Lavi sind zwei von Re’uts Kindern. Kunden, die den Zusammenhang zwischen ihr, der fröhlichen Frau mit dem ansteckenden Lachen, und der Geschichte des Mordes an Dvir Karp verstehen, schlagen oft schockiert die Hand vor den Mund oder brechen in Tränen aus. »Aber meine Kinder leben ja«, ruft sie dann meist und lacht.

Trotz des Unfassbaren, das geschah, lacht sie laut und viel. Einige haben noch Tränen in den Augen, wenn sie einstimmen. Manchmal dreht die charismatische Frau im Café auch spontan die Musik auf, tanzt durch das Lokal, schenkt Fremden ein kleines Glas Whiskey ein, knipst Selfies und prostet ihnen zu: »L’Chaim – auf das Leben!« Wenn man die Herzen öffnet, würden Fremde zu Freunden werden. Man glaubt es ihr sofort.

»Im Otef werden nicht nur Kaffee und Pralinen serviert, sondern auch eine Portion Lebensmut.«

Café-Gast Schachar Cohen

Das Mobiltelefon klingelt, ihre Tochter ruft an. Daria. Die Mutter spricht ruhig mit ihr. Das zehnjährige Mädchen möchte heute lieber nicht zur Psychologin gehen, sondern zu Hause bei der Oma bleiben. »Kein Problem, mein Schatz«, sagt Re’ut. »Ich komme bald.« Sekunden später springt sie wieder auf, begrüßt Gäste, rückt eine Deko zurecht, verteilt Küsse. Sie geht zu einem Paar, das draußen vor der Tür auf Stühlen sitzt, und bringt ihnen ein paar Pralinen. Es sind Eltern, die ihren Sohn in Re’im verloren haben. Die Tochter arbeitet im Café Otef. Sie heilen hier gemeinsam.

»Es ist ein Treffpunkt, der uns an das Zuhause und die geliebten Menschen erinnert, die wir verloren haben«, sagt Re’ut, als sie wieder hereinkommt. »Unser Leben wird nie wieder dasselbe sein, aber was uns stärkt und uns dabei hilft, jeden Tag zu überstehen, sind unsere Gemeinschaft und die Erinnerungen.«

Es wird viel umarmt im Café Otef

»Danke, dass ihr diesen Ort geschaffen habt«, sagt Schachar Cohen. Der junge Mann wird beim Hereinkommen von der Eigentümerin fest in den Arm genommen. »Ich fühle mich hier so aufgehoben.« Freunde von ihm wurden beim Nova-Festival ermordet. Im Café Otef müsse er seine plötzlichen Tränen nicht erklären. »Es ist der einzige Ort, an dem ich spüre, dass ich wieder lachen darf, ohne mich schuldig zu fühlen.« Denn serviert würden hier nicht nur Kaffee und Schokoladenpralinen, sondern auch eine Portion Lebensmut. »Das tut so gut.«

Auf dem Schild über dem Eingang steht der Name der Gemeinde: Re’im. »Wir sind stolz darauf, wo wir herkommen, und es ist unser Zuhause.« Re’ut Karp ist im Kibbuz geboren, dort brachte sie ihre drei Kinder zur Welt. Wünsche nach einem anderen Leben hatte sie nie. Doch Pläne für ihr weiteres Leben und den Heimatkibbuz hat sie große: Das ursprüngliche Café, das sie mit Dvir betrieben hatte, ist wiedereröffnet. Pralinen gibt es dort noch nicht, doch eines Tages soll eine Schokoladenfabrik hinzukommen.

Die bekannte Psychotherapeutin Esther Perel, Tochter von Schoa-Überlebenden aus Belgien, schreibt in ihrem Blog: »Meine Eltern wollten das Leben nicht nur als Überlebende genießen. Für sie gab es einen Unterschied zwischen ›nicht tot sein‹ und ›lebendig sein‹.« Zu welcher Kategorie Re’ut Karp gehört, ist eindeutig. Doch sie gesteht, dass ihre Haltung nach einem solchen Trauma nicht die Norm sei. »Ich sehe die Welt wahrscheinlich anders als viele andere. Ich nehme jedes kleine Detail, jeden Menschen in meiner Umgebung wahr. Und ich kann gar nicht anders, als mich darum zu kümmern.«

Es wird viel umarmt im Café Otef. Re’ut Karp ist wie ein Magnet, der die Menschen anzieht, und strahlender Mittelpunkt der Gemeinde. Ihr Kaffee in einem Papierbecher mit dem Aufdruck einer roten Anemone steht auf der Theke. Einen Schluck hat sie getrunken. Dann muss sie wieder los: Fremde umarmen.

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