Sie sind schnell, sie sind grün, sie sind leicht zu haben. Einfach die Kreditkarte in den Schlitz stecken und los geht es. Ganz ohne Buchung oder Vorankündigung. Mit den Fahrrädern zum Leihen sind Tel Aviver anderen Verkehrsteilnehmern im Stadtverkehr stets eine Nasenlänge voraus. Immer mehr Zweiräder flitzen an allen Tagen des Jahres über die Radwege der Großstadt. Nur an einem bleiben sie stehen: Jom Kippur. Dabei ist gerade das der inoffizielle Tag der Radfahrer.
Doch natürlich ist er in erster Linie der höchste Feiertag im jüdischen Kalender. Die Menschen fasten von Sonnenuntergang bis zum nächsten Abend, wenn drei Sterne am Firmament aufblitzen und das Schofar ertönt. Viele Israelis, auch durch und durch säkulare, gehen in die Synagoge, tun Buße und halten sich an die Ge- und Verbote. Sie fasten, putzen nicht die Zähne, tragen keine Lederschuhe und anderes mehr. Und sie fahren Rad. Denn Autofahren ist gänzlich tabu. Auch Busse und Taxen bleiben für 24 Stunden in ihren Garagen. Die einzigen Vehikel, die bewegt werden dürfen, sind die von Muskelkraft angetriebenen.
Ähnlich dem autofreien Sonntag in Deutschland in den 70er-Jahren übernimmt in Israel einmal im Jahr alles, was Räder, aber keinen Motor hat, die Straßen von Nord bis Süd: Zweiräder, Dreiräder, Roller, Skateboards und Inline-Skates. Kinder und Jugendliche verabreden sich schon Tage vorher, wer mit wem fährt, tüfteln Routen auf den Wegen aus, die sonst gänzlich Autos vorbehalten sind.
Familie Schlomi Gold hat sich vorbereitet. »Ich habe einen ganzen Tag lang unsere Räder fit gemacht«, so der Tel Aviver Computerfachmann. »Geputzt, geölt, aufgepumpt. Sie strahlen richtig, es kann losgehen.« Auch sonst fährt er fast jedes Wochenende Rad für die Fitness. Jom Kippur aber gehört der Familie. Er hat vor, mit seinen Söhnen im Teenager-Alter auf der Straße Nummer sechs, der einzigen echten Autobahn Israels, zu radeln. »Es ist ein tolles Gefühl, wenn Kinder einmal die Macht auf den Straßen übernehmen. Keine Aggression beim Überholen, alles ist friedlich, es ist ein irrer Spaß.«
Gegen Nachmittag am Folgetag werden die Fahrradfahrer immer langsamer – kein Essen, keine Energie. Man sieht sie an den Straßenrädern entlangschleichen, ihre Räder neben sich herschiebend. Und dann sehnen sie den tiefen Ton des Schofars herbei, der wie eine Verheißung in den Abendhimmel tönt. Das Fasten wird gebrochen, Jom Kippur ist zu Ende.
Goldgrube Für den Betreiber der grasgrünen Miet-Velos, Tel-O-Fun, könnte dieser Tag eine regelrechte Goldgrube sein. All jene, die keinen eigenen Sattel zur Verfügung haben, könnten sich an einer der Stationen in Tel Aviv oder anderen Städten schnell ein Fahrrad mieten und ausprobieren, wie es sich anfühlt, die Stadtautobahn per Pedal unsicher zu machen. Doch Tel-O-Fun darf an Jom Kippur nicht vermieten. Denn auch das Betreiben der Stationen sowie das Berechnen und Einsammeln von Geld ist am heiligsten Tag strikt untersagt.
Das hatte Transportminister Israel Katz in der vergangenen Woche noch einmal ganz deutlich gemacht. Er drohte damit, die finanzielle Unterstützung für das Projekt zu kürzen, sollten die Räder am jüdischen Versöhnungstag ausgegeben werden. Er bezichtigte gar den Bürgermeister Tel Avivs, Ron Huldai, den »heiligsten Tag der Juden zu entweihen, um politischen Aufwind bei seinen vielen nicht-religiösen Verbündeten zu erhalten«.
Der erste Mann im Rathaus jedoch antwortete prompt, es sei schade, dass der Minister nicht zuerst die Fakten untersucht, bevor er sich beschwert. Man habe niemals vorgehabt, Tel-O-Fun-Stationen an Jom Kippur zu öffnen. Im Gegenteil: Anders als im Vorjahr würde den Inhabern von Rad-Abonnements dieser Tag sogar nicht einmal berechnet. Im selben Atemzug betonte Huldai, dass im Übrigen sämtliche Gelder für Tel-O-Fun von der Stadt und nicht etwa dem Transportministerium kämen. »Es ist bedauerlich, dass Katz einer Initiative schaden will, die eine hervorragende Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln darstellt«, so Huldai.
Trick Das innovative Projekt, das vor etwas über einem Jahr eingeführt wurde, ist ein außergewöhnlicher Erfolg. Immer mehr Stationen werden aufgebaut, mittlerweile sind es Dutzende mit Hunderten von Rädern überall in der Stadt, angefangen von den Einkaufszentren über die grüne Lunge Hajarkon-Park, und sogar direkt am Strand kann man aufsteigen. Bis heute sind mehr als eine Million Mal Räder vermietet worden. Der Kampagne wurde sogar die begehrte Auszeichnung »Green Globe« für ihre außergewöhnliche Umweltfreundlichkeit verliehen.
Auch Minister Katz bestätigte die positive Bedeutung von Tel-O-Fun, meinte jedoch, dass in jedem Fall der jüdische Feiertag Vorrang haben müsse. Offensichtlich aber hat das von vornherein niemand anzweifeln wollen. Es war ein Streit um nichts. Und trotz der Debatte werden die grünen Velos auch an Jom Kippur auf den Straßen zu sehen sein. Denn die Menschen werden es so machen wie im Vorjahr: Damals hatten sie die Räder einfach vor dem Beginn des Feiertages abgeholt und am Ende zurückgegeben. So herrscht an sämtlichen Vermietstationen im ganzen Land schon vor Sonnenuntergang statt der grasgrünen Räder, die sonst in Reih und Glied stehen, ohnehin gähnende Leere.