Die indirekten Verhandlungen über einen Geisel-Deal im Gaza-Krieg sind Medienberichten zufolge an einem kritischen Punkt angelangt. Die Führung in Israel gehe davon aus, dass die islamistische Terrororganisation Hamas das jüngste Angebot für ein Abkommen über die Freilassung israelischer Geiseln und eine Waffenruhe offiziell ablehnen wird, zitierte die Zeitung »Times of Israel« am späten Donnerstagabend einen Regierungsbeamten.
Zuvor war im Hauptquartier des israelischen Militärs in Tel Aviv das Kriegskabinett zusammengetreten, um über einen möglichen Beginn der umstrittenen Bodenoffensive in Rafah im Süden des abgeriegelten Gazastreifens zu beraten. Währenddessen demonstrierten draußen Dutzende von Familienangehörigen israelischer Geiseln und ihre Unterstützer und forderten der Zeitung zufolge Regierungschef Benjamin Netanjahu auf, einer Vereinbarung zuzustimmen, die die Freilassung der Geiseln in Gaza sicherstellt - egal, wie hoch der Preis dafür sei.
Türkei stellt Handel mit Israel ein
Unterdessen beschloss die Türkei, wegen der israelischen Angriffe im Gazastreifen die Aus- und Einfuhr aller Produkte mit Bezug zu Israel auszusetzen. Das teilte das türkische Handelsministerium am Donnerstagabend auf der Plattform X, vormals Twitter, mit. Die neuen Maßnahmen würden strikt umgesetzt, bis die israelische Regierung den ununterbrochenen Fluss humanitärer Hilfe nach Gaza erlaube. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Israels Militäreinsatz im Gazastreifen wiederholt scharf kritisiert und Israel »Völkermord« vorgeworfen.
Israels Außenminister reagierte empört auf den Handels-Stopp. »Erdogan bricht Vereinbarungen, indem er Häfen für israelische Importe und Exporte blockiert«, schrieb Israel Katz auf X. »Auf diese Weise verhält sich ein Diktator, die Interessen des türkischen Volkes und der Geschäftsleute missachtend.« Zudem ignoriere Ankara internationale Handelsabkommen, wetterte Katz.
Bericht: Gaza-Deal hängt von Hardlinern Israels und der Hamas ab
Eine Vereinbarung über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg hänge nun von den beiden Hardlinern Netanjahu und Yayha Sinwar ab - letzterer ist der Anführer der Hamas-Terroristen in Gaza. Beider Zukunft stehe in diesem Krieg auf dem Spiel und ihr Kalkül lasse wenig Spielraum für einen Kompromiss, schrieb das »Wall Street Journal«. Netanjahu, gegen den seit Längerem ein Korruptionsprozess läuft, ist für sein politisches Überleben auf seine rechtsextremen Koalitionspartner angewiesen. Diese hatten jüngst mit einem Ende der Regierung gedroht, sollte der auf dem Tisch liegende Geisel-Deal umgesetzt und ein Einsatz in Rafah abgeblasen werden. Selbst wenn die Hamas ein Abkommen bedingungslos akzeptieren würde, sei denn auch nicht klar, ob Israel dem zustimmen werde, schrieb dazu die »Times of Israel«.
Sinwar wiederum glaube, dass er auch einen Angriff auf Rafah überleben könne, zitierte das »Wall Street Journal« arabische Unterhändler, die mit ihm verhandelten. Der Hamas-Anführer wird in den Tunneln der Hamas unterhalb des Gazastreifens vermutet. Arabischen Vermittlern zufolge sei Sinwar der Auffassung, dass er den Krieg mit Israel bereits gewonnen habe, unabhängig davon, ob er ihn überlebt oder nicht. Denn er habe das Leiden der Palästinenser und den Konflikt mit Israel ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt. Sinwars Ziel sei es, die Freilassung von Hunderten, wenn nicht Tausenden von palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen im Austausch gegen Geiseln im Gazastreifen zu erreichen und ein Abkommen zu schließen, das den Krieg beendet und das Überleben der Hamas sichert.
Bericht: Hamas-Anführer fordert Änderungen am Verhandlungsangebot
In Bezug auf das aktuelle Verhandlungsangebot verlange Sinwar ein garantiertes Ende des Kriegs, sagte eine dem Hamas-Anführer nahestehende Quelle dem israelischen Fernsehsender Channel 12 am Donnerstagabend. Israel lehnt dies bislang ab. Sinwar will den Angaben zufolge eine schriftliche Verpflichtung für ein »bedingungsloses Ende der Kämpfe«. Er fordere außerdem, dass den palästinensischen Häftlingen, die Israel im Austausch für israelische Geiseln aus Gefängnissen entlassen müsste, nicht die Rückkehr ins Westjordanland verwehrt werde. Israel will diejenigen, die lebenslange Haftstrafen absitzen, laut dem jüngsten Entwurf für einen Deal in den Gazastreifen oder ins Ausland schicken.
Weiterhin verlangt Sinwar demnach nähere Informationen zu Materialien, die Israel für den Wiederaufbau nicht in das abgeriegelte Küstengebiet liefern lassen will. Der Sender Channel 12 mutmaßt, das Sinwar somit sicherstellen wolle, dass die Hamas ihre Tunnel wiederaufbauen kann.
Der 1962 im Gazastreifen geborene Sinwar gehört zur Gründergeneration der Hamas. Er war in den Anfangsjahren der islamistischen Bewegung für den Kampf gegen mutmaßliche Kollaborateure mit Israel in den eigenen Reihen zuständig und am Aufbau des militärischen Hamas-Arms beteiligt. Wegen Mordes unter anderem an zwei israelischen Soldaten verbrachte Sinwar mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft. Diese Zeit nutzte er, um Hebräisch zu lernen und den Feind zu studieren. 2011 kam er frei - als einer von mehr als 1000 palästinensischen Häftlingen im Gegenzug für den israelischen Soldaten Gilad Schalit.
Hamas will Verhandlungen in Kairo fortsetzen
In Mitteilungen, die der militärische Flügel der Hamas an die arabischen Vermittler weitergeleitet habe, habe Sinwar angedeutet, dass die Zeit auf seiner Seite sei, schrieb das »Wall Street Journal« am Donnerstag weiter. Denn der internationale Druck auf Israel nehme zu, je länger er warte. Sinwars Terrororganisation hatte am Donnerstag mitgeteilt, noch einmal eine Delegation nach Ägypten zu schicken, um die indirekten Verhandlungen über einen Geisel-Deal fortzusetzen. Dem staatsnahen ägyptischen Fernsehsender Al-Kahira News zufolge soll eine Hamas-Delegation innerhalb der nächsten zwei Tage in der Hauptstadt Kairo eintreffen. Die ägyptischen Vermittler versuchten nun mit US-Unterstützung, die Uneinigkeiten zwischen Israel und der Hamas zu überwinden, berichtete der TV-Sender Channel 12.
Die israelische Regierung hat einen raschen Beginn der Offensive in Rafah angekündigt, sollte es nicht zu einer Einigung kommen. Verbündete wie die USA haben Israel wiederholt vor einem großangelegten Angriff auf Rafah gewarnt, weil sich dort Hunderttausende palästinensische Binnenflüchtlinge aufhalten. Die Stadt ganz im Süden Gazas gilt nach rund sieben Monaten Krieg als einzige in dem Küstengebiet, die noch vergleichsweise intakt ist. Das israelische Militär hat jedoch angekündigt, die Zivilbevölkerung vor Beginn der Offensive in Zeltstädte evakuieren zu wollen. dpa/ja