Eine Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag hat am Donnerstag Einsprüche des Staates Israel zurückgewiesen und Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie seinen früheren Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen angeblicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen erlassen.
Auch gegen den Hamas-Militärchef Mohammed Deif erlies das Gericht Haftbefehl. Deif ist allerdings seit Monaten verschollen. Israel hat ihn bereits für tot erklärt. In seinem Antrag hatte Chefankäger Karim Khan zudem zwei weiteren Hamas-Führern - Yahya Sinwar und Ismail Haniyeh - schwere Verbrechen vorgeworfen. Sie seien »verantwortlich für die Tötung Hunderter israelischer Zivilisten» am 7. Oktober 2023. Sinwar und Haniyeh wurden aber zwischenzeitlich von Israel getötet.
Für die Netanjahu und Gallant zur Last gelegten Verbrechen gebe es »hinreichende Gründe«, teilte die aus drei Richtern bestehende Kammer des Gerichtshofs mit. Laut Chefankläger Khan, der die Haftbefehle im Mai beantragt hatte, sollen beide Politiker in verantwortlicher Position das Aushungern der Bevölkerung als Methode der Kriegsführung und andere unmenschliche Handlungen sowie einen Angriff auf die Zivilbevölkerung angeordnet haben.
Beide hätten der Zivilbevölkerung in Gaza absichtlich und wissentlich überlebenswichtige Dinge wie Lebensmittel, Wasser, Medikamente, Treibstoff und Strom vorenthalten. Israel habe so seine Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht verletzt, schlussfolgert die IStGH-Kammer.
Allerdings gaben sie nicht allen Argumenten Khans statt. So heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts: »Auf der Grundlage des von der Anklagevertretung vorgelegten Materials, das den Zeitraum bis zum 20. Mai 2024 abdeckt, konnte die Kammer nicht feststellen, dass alle Elemente des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der Ausrottung erfüllt waren. Die Kammer stellte jedoch fest, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass das Verbrechen gegen die Menschlichkeit Mord im Zusammenhang mit diesen Opfern begangen wurde.«
Einwände Israels wurden abgewiesen
Israel hatte die Zuständigkeit des Gerichtshofs für israelische Staatsangehörige infrage gestellt und ihn aufgefordert, alle Verfahren gegen seine Staatsangehörigen einzustellen, einschließlich der Prüfung der Anträge Khans auf Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant.
Einer Pressemitteilung des Gerichtshofs zufolge stellten die Richter fest, dass die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs durch Israel nicht erforderlich sei, da der IStGH seine Zuständigkeit auf der Grundlage der territorialen Zuständigkeit Palästinas ausüben könne. Israel hat, wie andere Staaten auch, darunter die USA, das Römische Statut zur Gründung des IStGH nicht ratifiziert. Allerdings taten die Palästinenser dies und unterwarfen sich 2016 der Zuständigkeit des Gerichts.
Eine Anfechtung der Zuständigkeit des Gerichtshofs noch vor der Ausstellung von Haftbefehlen sei nicht möglich, entschied die Kammer. Daher komme die Anfechtung durch Israel zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht.
Die Regierung in Jerusalem hatte argumentiert, dass der IStGH nach Artikel 19 des Römischen Statuts nicht zuständig sei. Zudem handele es sich um eine neue Untersuchung, bei vor einer möglichen Ausstellung von Haftbefehlen Israel offiziell über die Vorwürfe hätte informiert werden müssen.
Haftbefehle normalerweise »geheim«
Das Gericht wies dies jedoch zurück. Die Anklagebehörde habe Israel bereits 2021 über die Einleitung einer Untersuchung in Bezug auf den Gazastreifen informiert. Zu diesem Zeitpunkt habe Jerusalem kein Gesuch um Aufschub der Untersuchung gestellt. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die Maßstäbe für die Untersuchung seitdem gleich geblieben seien und keine erneute Benachrichtigung des Staates Israel erforderlich gewesen sei. Vor diesem Hintergrund habe es auch keinen Grund gegeben, die Prüfung der Anträge auf Haftbefehle auszusetzen.
Israel geht in Gaza gegen den palästinensischen Terror vor, um durch den militärischen Druck die Geiseln zu befreien und um seine Bevölkerung vor weiteren Massakern zu schützen, die die Hamas bereits angekündigt hat. Terroristen der Hamas und anderer Gruppen verstecken sich in vielen Fällen in oder unter Wohn- und Schulgebäuden sowie Krankenhäusern, damit palästinensische Zivilisten zu Schaden kommen.
Die Hamas ruft die eigene Bevölkerung ganz offen dazu auf, «Märtyrer» im Kampf gegen Israel zu werden, um den jüdischen Staat weiter zu isolieren.
Vor seinen Angriffen warnt Israel die Zivilbevölkerung, richtet Schutzzonen ein und ergreift zudem weitere Maßnahmen, um Zivilisten zu schützen.
Der Gerichtshof teilte mit, dass die Haftbefehle eigentlich als »geheim« eingestuft werden sollten, um Zeugen zu schützen und den Ablauf der Ermittlungen zu gewährleisten. Man habe aber beschlossen, die Informationen zu veröffentlichen, da das »Verhalten wie das im Haftbefehl genannte offenbar anhält«. Darüber hinaus sei die Kammer der Ansicht, dass es im Interesse der Opfer und ihrer Familien liege, über die Existenz der Haftbefehle informiert zu werden.
Herzog äußert scharfe Kritik
Israels Staatspräsident Isaac Herzog schrieb in einer ersten Reaktion auf der Social-Media-Plattform X von einem »schwarzen Tag für die Menschheit«. Er warf den Haager Richtern vor, mit sich mit ihrem Beschluss »für die Seite des Terrors und des Bösen und gegen Demokratie und Freiheit entschieden« zu haben.
Die Entscheidung für Haftbefehle gegen die beiden israelischen Politiker sei »in böser Absicht getroffen« worden und »empörend«, so Herzog weiter. Damit habe das Gericht »die universelle Gerechtigkeit zu einer universellen Lachnummer gemacht« und »das Opfer all jener, die für Gerechtigkeit kämpfen, vom Sieg der Alliierten über die Nazis bis heute«, verhöhnt.
Auch die Notlage der 101 israelischen Geiseln, welche weiterhin von der Hamas in Gaza brutal gefangen gehalten würden, sei ignoriert worden. Herzog schrieb, Israel sei »barbarisch angegriffen worden« und habe »die Pflicht und das Recht, sein Volk zu verteidigen.«
Aus dem Büro des Ministerpräsidenten selbst kamen scharfe Attacken auf die Integrität von Karim Khan. Der habe, so ein Netanjahu-Sprecher »gelogen, als er amerikanischen Senatoren sagte, er würde nicht gegen Israel vorgehen, bevor er hierher komme und die israelische Seite angehört habe.«
Im Mai, kurz vor der Bekanntgabe seines Antrags auf Haftbefehle, habe Khan plötzlich seinen Besuch in Israel abgesagt, und das »nur wenige Tage, nachdem gegen ihn der Verdacht der sexuellen Belästigung erhoben wurde«, so die Riposte des Büros von Netanjahu, welches das Verfahren mit dem antisemitischen Schauprozess gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus vor 120 Jahren in Frankreich verglich.
Auch aus den USA kam scharfe Kritik. Der künftige Nationale Sicherheitsberater von Donald Trump, Mike Waltz, schrieb auf X, der Strafgerichtshof habe »keine Glaubwürdigkeit«. Waltz weiter: »Israel hat sein Volk und seine Grenzen rechtmäßig vor völkermörderischen Terroristen verteidigt. Im Januar können wir mit einer heftigen Reaktion auf die antisemitische Voreingenommenheit des Internationalen Strafgerichtshofs und der UN rechnen.«
Der demokratische Senator für Pennsylvania, John Fetterman, drückte sich noch drastischer aus. »Keine Zuständigkeit, keine Relevanz, kein Verfahren. Fuck that«, postete er knapp auf X.