Herr Bundeskanzler, auch dieses Jahr haben Sie in Ihrer Rede zum Holocaustgedenktag betont, dass Judenhass in diesem Land keinen Platz haben darf. Wird unsere Gesellschaft momentan diesem Anspruch gerecht?
Es ist die traurige Wahrheit, dass der Antisemitismus in unserer Gesellschaft in allen Varianten zugenommen hat. Umso mehr gilt: Wir müssen uns gegen jede Form des Antisemitismus zur Wehr setzen – ob er nun von links kommt, von rechts, ob er schon immer hier verwurzelt war oder neu dazugekommen ist.
Die Zahlen der antisemitischen Straftaten sind 2023 von einem ohnehin schon sehr hohen Niveau noch einmal massiv in die Höhe geschnellt. Haben Sie genug für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden getan?
Ich werde mich nie damit abfinden, dass jüdische Einrichtungen, Jüdinnen und Juden in Deutschland besonders geschützt werden müssen. Das ist beschämend. Mit einer ganzen Reihe von Gesetzesverschärfungen wirken wir dem Antisemitismus entgegen. Solange aber Polizeischutz nötig ist, haben wir alle gemeinsam noch nicht genug getan gegen Antisemitismus.
Im Jahr 2024 blieben die Zahlen trotzdem auf einem ähnlichen alarmierenden Niveau. Wie wollen Sie diese senken, wenn Sie noch einmal in Regierungsverantwortung kommen sollten?
Es wird immer eine gemeinsame Anstrengung der politisch Verantwortlichen sein, zusammen mit den Behörden, die Gesetze durch- und umzusetzen – und selbstverständlich auch von uns allen als Bürgerinnen und Bürger. Jeder von uns muss jenen widersprechen, die antisemitisch motiviert sprechen oder handeln.
Das gilt für uns alle auch im eigenen Umfeld. Im Oktober hat Ihre Parteikollegin und Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz einen Post geteilt, auf dem ein brennendes Haus zu sehen ist. Darauf stand: »This is zionism«. Ist das eine Auffassung von Zionismus, die in Ihrer Partei Platz haben darf?
Nein. Die Bundestagsvizepräsidentin hat dies sehr schnell klargestellt.
Sie hat sich formal entschuldigt. Doch in der Sache klargestellt hat sie es nicht, warum so ein Bild problematisch ist.
Die Haltung der SPD ist eindeutig: Eine solche Wertung ist falsch und nicht hinnehmbar.
Das nicht hinzunehmen heißt für Sie aber, dass eine Entschuldigung hier ausreicht?
Frau Özoğuz hat sich entschuldigt und den Beitrag gelöscht.
Ihre Regierung und auch Sie persönlich betonen immer wieder, dass die Sicherheit Israels Staatsräson für Deutschland sei. Trotzdem gab es im vergangenen Jahr über einen langen Zeitraum ein stilles Waffenembargo. Wichtige Waffen wurden dem Staat Israel, der wehrhaft sein muss, um nicht ausgelöscht zu werden, vorenthalten. Wie passt zusammen?
Es hat keinerlei Waffenembargo meiner Regierung gegen Israel gegeben, auch kein »stilles«. Wir haben Waffen geliefert und werden es weiter tun. Deutschland hat nach dem furchtbaren Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 Israel volle Solidarität bekundet und bewiesen. Wenige Tage nach der Tat bin ich nach Tel Aviv gereist und habe mit Präsident Herzog und Premier Netanjahu persönlich gesprochen. Sie haben unsere Solidarität stets anerkennend hervorgehoben.
Die israelische Botschaft sagt, Deutschland habe über Monaten keine Ausfuhr von Kriegswaffen mehr an Israel genehmigt. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft bekräftigt das. Sagen sie die Unwahrheit?
Im Bundessicherheitsrat werden die Entscheidungen für den Export von Rüstungsgütern getroffen; es wurden, wie gesagt, immer wieder Ausfuhren nach Israel genehmigt.
Man kann darüber streiten, wie man es nennt. Aber Fakt ist doch, dass die Prüfungen der Waffenlieferungen außerordentlich lange Zeit gedauert haben, sodass Israel über Monate keine deutschen Waffen erhalten hat.
Fakt ist, dass wir in ständigem Dialog mit der israelischen Regierung stehen, auch über die Frage von Rüstungs- und Waffenexporten und wir suchen dabei gemeinsam den besten Weg.
In den vergangenen 15 Monaten hat sich die Bundesregierung in den Vereinten Nationen bei israelfeindlichen Resolutionen immer wieder enthalten, anders als Tschechien, anders als die USA. An der Seite Israels zu stehen, sieht doch anders aus.
Kaum ein Land in den Vereinten Nationen ergreift so sehr Partei für Israel wie Deutschland.
Aber warum dann die Enthaltung?
Deutschland ist ein treuer Freund Israels. Bedeutet das, dass man alle Entscheidungen der Regierung stets unkritisch mitträgt? Sicher nicht! Oft genug konnten wir in Verhandlungen erreichen, dass völlig inakzeptable Formulierungen aus UN-Resolutionen gestrichen wurden. Ich denke, im Außenministerium in Jerusalem wird man Ihnen bestätigen, dass Israel in internationalen Foren und bei der Europäischen Union in Brüssel kaum einen verlässlicheren Partner hat als Deutschland.
Bundespräsident Steinmeier hat vor einigen Monaten den türkischen Präsidenten Erdoğan besucht und ihn als »werten Freund« bezeichnet. Jenen Erdoğan, der die Hamas als Widerstandsorganisation bezeichnet und Israels Ministerpräsident »schlimmer als Adolf Hitler« findet. Jener Erdoğan, der zum Sturm auf Jerusalem aufruft. Würden Sie ihn auch als werten Freund der Bundesrepublik bezeichnen?
Nun, über viele Jahre hinweg haben sich die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei ja durchaus auch positiv entwickelt, auch unter Präsident Erdogan. Die Bundesregierung pflegt einen engen Dialog mit Ankara, auch das finde ich richtig. Dazu gehört selbstverständlich, dass wir unsere zum Teil sehr unterschiedlichen Haltungen – etwa zur Hamas – deutlich besprechen.
Das heißt, ein ausgesprochener Antisemit wie Erdoğan kann ein werter Freund der Bundesrepublik sein. Das schließt sich nicht aus?
Wie jeder weiß, sind wir in der Frage der Israelpolitik nicht einer Meinung mit dem türkischen Präsidenten.
Ihre Außenministerin Annalena Baerbock hat in den vergangenen 15 Monaten keine Gelegenheit ausgelassen, öffentlich Israel an den Pranger zu stellen und international weiter zu isolieren. Würden Sie künftig einen anderen Akzent einschlagen?
Ihrer Wertung möchte ich entschieden widersprechen. Meine Regierung hat sich, inklusive der Außenministerin, gerade nach dem furchtbaren Terrorangriff des 7. Oktober wie wenig andere Länder in tatkräftiger Solidarität für Israel und seine Bürgerinnen und Bürger eingesetzt. Ich zählte zu den ersten Regierungschefs, die nach dem 7. Oktober nach Israel reisten, und auch Annalena Baerbock war unzählige Male vor Ort. Sie hat sich immer wieder intensiv für die verschleppten israelischen Geiseln und für einen besseren Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen eingesetzt.
Sie haben sich auch mehrfach mit den Geiselfamilien getroffen. Gleichzeitig hört man hier relativ wenig davon, dass noch immer Menschen von der Hamas entführt sind, die einen deutschen Pass besitzen.
Wie Sie erwähnen, haben wir uns mehrfach mit den Geiselfamilien getroffen. Ihre Wahrnehmung teile ich deshalb nicht. Gerade die Bundesregierung hat sich intensiv um die Freilassung aller Geiseln bemüht. Für die Entführten mit Deutschland-Bezug verspüren wir selbstverständlich eine besondere Verantwortung. Unzählige Male haben wir uns mit den Vermittlern – den USA, Qatar, Ägypten und auch der Türkei – beraten. Wir sind froh und erleichtert, dass eine ganze Reihe deutscher Geiseln im Zuge des jüngsten Waffenstillstands freigekommen sind. Wir werden nicht ruhen, bis alle Verschleppten heimgekommen sein werden.
In Ihre Amtszeit fällt mit der documenta 15 auch der größte kulturpolitische Skandal der Bundesrepublik seit 1949. Zu verantworten hat ihn Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), die monatelang vor den antisemitischen Kuratoren gewarnt wurde, die Hinweise aber ignorierte. Da hätten sich viele ein klares Wort von Ihnen gewünscht.
Was bei der letzten Documenta passiert ist, war inakzeptabel, dafür gibt es keine Rechtfertigung. Das haben wir deutlich gemacht. Und ich habe sie deshalb, anders als viele Male zuvor, nicht besucht.
Frau Roth ist allerdings im Amt geblieben. Ist der Kampf gegen Judenhass nicht auch Chefsache?
Die Documenta wird nicht im Kanzleramt kuratiert und deshalb stimmt auch die Rolle nicht, die Sie hier der Kulturstaatsministerin zuschreiben. Claudia Roth hat sich in dieser Frage klar positioniert.
Haben Sie den Eindruck, dass der politische Betrieb, aber auch wir als Gesellschaft da mit Blick auf den Antisemitismus aus der muslimischen Community und aus dem globalen Süden vielleicht auch einen blinden Fleck haben?
Diese Blindstellen darf es nicht geben, deshalb weise ich in jeder meiner Reden, in denen ich über Antisemitismus spreche, genau darauf hin. Zuletzt zum Beispiel im Januar bei der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main.
Zurück in die Gegenwart. Auf Ihren Wahlplakaten präsentieren Sie sich als Kanzler für sichere, stabile Renten. Das ist für Jüdinnen und Juden ein essentielles Thema. Unter den älteren Kontingentflüchtlingen sind 90 Prozent von Altersarmut betroffen. Was können Sie diesen Menschen versprechen?
Die Bundesregierung hat für die, bei denen die Altersbezüge aufgrund ihrer Lebensbiografie nicht angemessen sind, einen Sonderfonds aufgelegt.
Sie haben eine Einmalzahlung von 2500 Euro vom Bund beschlossen, die die Länder nochmal auf 5000 Euro aufstocken können. Ist die Rente damit schon gesichert?
Noch als Bundesfinanzminister habe ich diese Lösung entwickelt. Aus Gründen der Gerechtigkeit, unabhängig von der Frage, was jemand eingezahlt hat. Ich hätte mir gewünscht, dass alle 16 Länder dem Beispiel des Bundes folgen.
Für die letzte Frage springen wir nochmal zur Außenpolitik. Präsident Trump hat dieser Tage seinen Plan für Gaza vorgelegt. Wie bewerten Sie diesen?
Die zwangsweise Umsiedlung von Menschen ist menschenfeindlich und unakzeptabel. Ein solcher Plan verstößt gegen das Völkerrecht und die UN-Menschenrechtscharta.
Was ist die Vision der Bundesregierung für die Zukunft Gazas?
Am Ende ein friedliches Nebeneinander eines Staates Israels mit einem palästinensischen Staat, der Gaza und das Westjordanland umfasst. Die palästinensische Regierung sollte sich aus der Autonomiebehörde heraus entwickeln. Wichtig ist: Die Hamas-Diktatur muss der Vergangenheit angehören.
In welchen Punkten müsste sich die palästinensische Autonomiebehörde Ihrer Ansicht nach bewegen?
Es muss eine demokratische, legitime, rechtsstaatliche Regierung sein, gewählt von den Bürgerinnen und Bürgern.
Das klingt alles andere als realistisch.
Sie hatten nach meiner Vision gefragt. Es ist gut, dass ein Reformprozess im Westjordanland stattgefunden hat und eine neue Regierung auf den Weg gebracht worden ist. Das kann der Ausgangspunkt sein für die weitere Entwicklung. Es muss eine Perspektive geben, die aus einem demokratischen Miteinander freier und einander nicht bedrohender Gesellschaften besteht. Und das ist die Perspektive, die wir verfolgen müssen und sollten.
Das Interview führten Philipp Peyman Engel und Mascha Malburg. Für die Interview-Reihe der Jüdischen Allgemeinen zur Bundestagswahl wurden alle relevanten demokratischen Parteien angefragt.