Als sie vom Stuhl aufstand, wog Noa Kasantini fast zwei Kilogramm weniger. Doch die Neunjährige hatte nicht etwa abgespeckt. Ein Gang zum Friseur erleichterte sie um ihre wallende, kastanienbraune Mähne, die ihr bis weit über den Rücken reichte – 40 Zentimeter für einen guten Zweck. In Israel spenden immer mehr Menschen ihre Haare, damit daraus Perücken für krebskranke junge Menschen gefertigt werden können – vor allem Kinder und Jugendliche.
Die israelische Vereinigung für die Unterstützung von krebskranken Kindern und ihren Familien, Zichron Menachem, macht es möglich. Auf ihrer Website wird genauestens erklärt, welche Art Haar gespendet werden kann und welch große Bedeutung das für die Betroffenen nach einer Chemotherapie hat. »Es hilft, dass sie sich trotz ihrer Erkrankung wieder normal und schön fühlen.«
Zichron Menachem ist in Erinnerung an Menachem Ehrental ins Leben gerufen worden. Der Junge war nach einem lebenslangen Kampf gegen Leukämie im Alter von nur 15 Jahren verstorben. Seine Eltern Chaim und Miri gründeten daraufhin die Wohltätigkeitsorganisation, um ihre Erfahrungen anderen zugutekommen zu lassen. Zichron Menachem kümmert sich um die Kranken in verschiedenen Belangen zu Hause und im Krankenhaus. Eine der zahlreichen Aktionen ist das Haarespenden.
strubbelig Um eine Perücke zu fertigen, werden gesunde Haare ab einer Länge von 25 Zentimetern gebraucht, gemessen an einem geflochtenen Zopf, in sämtlichen Farben und Formen. Ob lockig, glatt oder auch strubbelig, wie die Mitarbeiter von Zichron Menachem betonen: »Denn wir wollen, dass sich die Kinder auch mit Krebs so normal wie möglich fühlen. Die Perücke aus dem gespendeten Haar soll daher dem echten so nah wie möglich kommen, schließlich mag jeder junge Mensch sein eigenes am liebsten. Ein Kind mit Locken will Locken, eines mit roten Zöpfen rote Zöpfe und eines mit einem braunen Strubbelkopf auch wieder einen braunen Strubbelkopf – sogar, wenn es sich immer darüber beklagt hat.«
Auch die Coiffeur-Zunft tut Gutes. Von Nahariya bis nach Eilat nehmen etwa 200 Friseure an der Aktion teil. Kundinnen, die sich von ihrer Haarpracht trennen wollen, bieten sie Waschen, Schneiden und anschließende Pflege kostenlos an.
Im November hat diese Spendenbereitschaft den Israelis sogar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde beschert. Zichron Menachem rief in einer Gemeinschaftsaktion mit dem Pflegemittelhersteller »Pantene Israel« Frauen zum Spenden auf. Prompt standen im Jerusalemer Einkaufszentrum Malcha mehr als 250 meist junge Damen Schlange, eine mit schöneren Haaren als die andere. Nach fünf Stunden des Schneidens und Schnippelns waren stolze 53,1 Kilogramm zusammengekommen – Weltrekord. Anschließend wurden die Zöpfe ausgestellt: Von schwarz über dunkel- und hellbraun bis rot und blond waren alle Haarfarben dabei.
Statussymbol Dabei gilt vor allem bei israelischen Teenagern langes Haar als absolutes Statussymbol. Junge Mädchen haben nicht selten wallende Mähnen, die bis über den Po reichen. In den sozialen Netzwerken übertrumpfen sie sich gern gegenseitig und posten Fotos ihrer lange gezüchteten Haarpracht. Und doch gibt es viele, die ihre Locken lassen.
»Es ist ein richtiger Trend«, meint Noas Schwester Roni. An manchen Oberschulen vergleichen einige der Mädchen schon nicht mehr, wer die längsten Haare, sondern wer den coolsten Bob hat. Roni hatte die Idee aus der Schule mitgebracht, nachdem einige ihrer Freundinnen bereits gespendet hatten. Sie selbst trägt ihre Korkenzieherlocken nicht länger als bis zu den Schultern – »weil sonst nichts mehr geht beim Kämmen« –, erzählte aber zu Hause von der Aktion.
»Und auf einmal kam Noa zu uns und sagte: ›Ich will das machen‹«, erinnert sich ihre Mutter Efrat. Nachdem die Schere beim Friseur ihr volles Haupthaar gestutzt hatte, weinte Noa nicht etwa, sondern strahlte, und ihre ganze Familie war »so wahnsinnig stolz auf sie«. Der Moment, da sie den dicken Umschlag mit ihrem Zopf in den Händen hielt, um ihn zu Zichron Menachem zu senden, sei sehr bewegend gewesen.
Haarspange Auch Noa liebte ihre Haare heiß und innig, schmückte sie gern mit Spangen, Klemmen und Bändern. Doch jetzt weiß sie, was es heißt, die Pracht nicht mehr auf dem Kopf, sondern in den Händen zu halten. »Es war ein komisches Gefühl, auf einmal nichts mehr auf den Schultern zu spüren«, erzählt sie und greift sich an den halblangen Bob. »Daran musste ich mich erst gewöhnen. Jetzt ist es aber okay.«
Noa mag ihr dickes braunes Haar noch immer. Nach der Aktion postete auch sie ein Foto von sich auf Facebook – mit kurzem Haar. Denn stolz ist sie jetzt nicht mehr darauf, wie lang ihre Locken sind, sondern darauf, etwas wirklich Gutes für andere Menschen getan zu haben.
www.zichron.org