Ich habe meine Kinder zurück. Und ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein soll. Am Tag ihrer Rückkehr kaufe ich Heliumballons und warte in der fast leeren Ankunftshalle des Ben-Gurion-Flughafens auf die beiden. Sie endlich wieder umarmen zu können, ihre weichen Gesichter zu streicheln, ist das schönste Gefühl der Welt.
Ich war noch nie so lange von ihnen getrennt und genieße jede Minute, seit sie wieder da sind - und ertappe mich gleichzeitig manchmal dabei, dass ich sie wieder wegwünsche. In die Sicherheit, nach Deutschland, wo sie allein einkaufen gehen und sich groß und unabhängig fühlen. Wo sie Geburtstage feiern, die nicht wegen Raketenalarm abgesagt werden. Wo man nicht abwägen muss, ob man jemanden einladen kann, weil man keinen Schutzraum im Haus hat.
Meine Kinder waren einen ganzen Monat lang in Deutschland. Ich hatte sie aus Sorge vor einer Ausweitung des Krieges zwischen Israel und der Hamas während der Rettungsaktion Deutschlands durch die Bundeswehr fortgeschickt.
Kinder müssen beschützt werden
Sie hatten eine wunderschöne Zeit bei meiner Familie und lieben Freunden – unsere Schutzengel und Superhelden – die sich rührend um Dean und Eden kümmerten. Doch sie hatten auch Heimweh. Nach ihren Eltern, ihren Freunden, ihrem Land. Vor allem mein 14-jähriger Sohn fühlte sich manchmal, als wäre er »abgehauen, während alle anderen in Israel bleiben und keine Wahl haben«. Kinder müssen beschützt werden, habe ich ihm gesagt. Dafür dürfe er sich nicht schämen oder Schuldgefühle haben. »Ihr müsst keinen Krieg ertragen.«
Ich selbst kenne Schuldgefühle gut. Ich fühle mich schuldig, dass meine Kinder in Israel in regelmäßigen Raketenhageln aufwachsen, ich fühle mich schuldig, wenn ich mich nach meinem Alltag sehne, mir Banales wünsche, etwa einen Tag am Strand mit meinen Kindern, während andere so sehr leiden – in Israel, in Gaza, auf der ganzen Welt.
»Ich habe Schuldgefühle, dass ich meine Kinder nach Israel zurückgeholt habe.«
Sabine Brandes
Und ja, ich habe auch Schuldgefühle, dass ich meine Kinder wieder nach Israel zurückgeholt habe. In ein Land, in dem noch immer Krieg herrscht. Und nicht nur in Gaza. Wir wollen es uns an ihrem ersten Abend Zuhause gemütlich machen. Gemeinsam kochen, Kartenspielen und einen Film schauen. Wir haben gerade begonnen, den Tisch zu decken, da schrillt die Sirene durch die Lüfte, endet jäh unsere Ausgelassenheit, und mir durch Mark und Bein.
Mein Sohn schnappt unsere Katze, und dann rennen wir drei von oben hinunter ins Treppenhaus. Um uns wieder einmal auf die Stufen zu kauern, die Hände über dem Kopf verschränkt und inständig hoffen, dass auch dieses Mal keine Hamas-Rakete einschlägt. Das wunderschöne Lachen meiner Tochter ist verstummt. Sie sind kaum zwölf Stunden hier. Was für ein grausamer Willkommensgruß.
Am Tag darauf fahre ich die beiden in die Schule. An ihren Schulranzen hängen jetzt gelbe Bänder mit der Aufschrift »Bring them home« und dem Datum 7. Oktober 2023 darauf. Gelb ist dieser Tage die Farbe der Geiseln. Damit niemand sie vergisst, verteilen Angehörige und Freunde der verschleppten Männer, Frauen und Kinder Bändchen an die Bevölkerung. Meine Kinder wissen natürlich von den 240 Geiseln in der Hand der Terrororganisation Hamas. Ofri Broduch ist genauso alt wie meine Tochter, zehn. Dafna Elyakim ist 14. Wie mein Sohn.
Eine Sirene kann einen überall und zu jeder Zeit überraschen
Ihr Schulunterricht ist derzeit auf vier Stunden am Tag und vier Tage in der Woche beschränkt. Ich fahre sie mit dem Auto hin und her. Fahrradfahren oder zu Fuß gehen ist tabu. Ich lasse die Kinder niemals allein aus dem Haus.
Denn die Sirene kann einen überall und jederzeit überraschen. Beim Einkaufen auf dem Markt, beim Radeln entlang der Strandpromenade, auf dem Schulweg. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Ton ohrenbetäubend den Alltag zerreißt, das Herz rast, die Panik in einem aufsteigt und man nur noch an eins denken kann: die Sekunden, die einem bleiben, um einen sicheren Ort zu finden. Jedes Mal, wenn ich dieser Tage hinausgehe, hoffe ich, dass es ruhig ist. Und wenn nicht, dass ich gerade in der Nähe eines öffentlichen Bunkers bin oder dass sich Fremde erbarmen und die Tür öffnen, wenn ich hysterisch auf alle Klingelknöpfe drücke.
Drei Tage nach ihrer Rückkehr fährt meine Tochter mit ihrem Aba vom Ballettunterricht zurück nach Hause. Während der Autofahrt Zeva Adom. Der Warnton, dass Tel Aviv von Rakten aus Gaza beschossen wird. Meine Tochter weint vor Schock, als sie das Auto mitten auf der Straße stehenlassen und in ein Haus rennen müssen. Zum Glück ist die Haustür geöffnet, so dass sie den Schutzraum schnell erreichen. Niemals sollen meine Kinder so etwas erleben, wenn sie allein auf der Straße sind.
Um 11.40 Uhr hole ich meinen Sohn von seinem Gymnasium ab. Als er aus dem Tor kommt und mir zuwinkt, durchläuft mich eine warme Welle des Glücks. Ich freue mich so, dass meine Kinder wieder da sind, und denke im nächsten Moment an andere Eltern. Riesige Poster hängen am Zaun der Schule, darauf ein hübscher junger Mann in coolem Outfit. Es ist Jonathan Samerano. Vor drei Jahren hat der 21-jährige hier sein Abitur gemacht. Am 7. Oktober war er mit Freunden auf einer Party. Die Freunde sind tot. Jonathan ist Geisel in Gaza.