Der Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, schläft in diesen Tagen wenig, entsprechend tief sind seine Augenringe. Der Autor des Buchs »Über Israel reden« klärt seit dem Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober in deutschen Medien unermüdlich über den Nahost-Konflikt auf.
Warum er über mangelnde Empathie mit den jüdischen Opfern enttäuscht ist und warum es der postkolonialen Linken schwerfällt, Antisemitismus zu verurteilen, erklärt der deutsch-israelische Historiker im Gespräch.
Herr Mendel, zeigt die Gesellschaft zu wenig Empathie für die jüdischen Opfer der Hamas-Attacke?
Ein Teil der Gesellschaft hat nach dem 7. Oktober gezeigt, dass er einen Reflex hat, wenn Juden massakriert werden. Das war eine Minderheit, die auf der Straße getanzt und Süßigkeiten verteilt hat. Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums gab es zwar pro-israelische Kundgebungen, die größte am Brandenburger Tor mit knapp 10.000 Menschen, aber das war auch eine Minderheit. Im Großteil der Gesellschaft herrschte dröhnendes Schweigen. Privat erhalte ich zwar viele Solidaritätsnachrichten, aber in der Gesamtgesellschaft spüre ich eine Gleichgültigkeit und auch eine Kälte gegenüber den jüdischen Opfern. Zum Vergleich: Als es 2015 die Angriffe in Paris auf »Charlie Hebdo« und das Bataclan gab, war die Solidarität mit den Opfern islamistischen Terrors enorm. Überall hieß es »Je suis Charlie«, in allen Schulen gab es Schweigeminuten. Die Attacke wurde als Angriff auf uns alle wahrgenommen. Aber wenn jüdische Menschen in Israel abgeschlachtet werden, wird das nicht als Angriff auf unsere westlichen liberalen Werte wahrgenommen.
Woher kommt diese Gegnerschaft zu Israel und seinen Bürgern?
In Teilen der linken, migrantischen und kulturellen Milieus wird die Hamas als Befreiungsbewegung angesehen. Sie sehen nicht, dass sie eine fanatische und extremistische Terrororganisation ist, die eben nicht die Befreiung von Palästina, sondern die Vernichtung der Juden in Israel zum Ziel hat. Es ist eine bittere Enttäuschung für mich, dass in der internationalen, aber auch in der deutschen Linken auf einmal eine solche Unterstützung für die Hamas gezeigt wird - gerade weil ich mich im linken Teil des politischen Spektrums verorte und mich selbst als pro-palästinensisch bezeichne.
Oft hört man ein »Ja, aber«, wenn man auf das Leid der Israelis hinweist.
Ich höre das oft. Der 7. Oktober hat jedoch nichts mit dem bestehenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern für einen eigenen Staat zu tun. Diese Gewaltexzesse, die Folter, diese Massenvergewaltigungen, die Enthauptung von Babys und kleinen Kindern, erinnern viel mehr an die Methoden des Islamischen Staates beispielsweise gegen die Jesiden im Irak. Diese Entfesselung der Gewalt hat nichts mit dem Kampf der Palästinenser für Selbstbestimmung zu tun. Als zivilisierte Gesellschaft können wir nicht akzeptieren, dass diese Exzesse mit dem Kontext des Nahost-Konflikts erklärt oder gar entschuldigt werden.
Es wird mit dem großen Leid der palästinensischen Bevölkerung in Gaza argumentiert.
Auch wenn jemand in Armut oder in Arbeitslosigkeit in Gaza aufgewachsen ist, ist das keine Erklärung und auch keine Entschuldigung für diese Taten. Zumal die Hamas auch Menschen getötet hat, die der Friedensbewegung angehört haben. Alle Menschen, die irgendwie an eine Lösung des Konfliktes glauben, will die Hamas mit ihren Taten davon abbringen. Sie will kein Friedensabkommen. Die einzige Lösung, die für sie infrage kommt, ist die Vertreibung und Vernichtung aller Juden zwischen dem Mittelmeer und dem Fluss Jordan. Politisch bedeutet das, dass es keine friedliche Lösung für die Region geben wird, solange die Hamas in Gaza ist.
Wie verstehen Sie Äußerungen der kirchlichen Weltbünde, etwa des Weltkirchenrats (ÖRK), die sofort nach den Anschlägen beide Seiten zum Gewaltverzicht aufgerufen haben?
Für mich waren sie eine herbe Enttäuschung. Gerade von den Kirchen erwartet man ein klares, moralisches Urteil, das völlig ausgeblieben ist. Der Weltkirchenrat hat die Rhetorik bedient, beide Seiten sollten mit der Gewalt aufhören und das Leben der Zivilisten soll geschützt werden. Es wurde kein Unterschied gemacht zwischen denjenigen, die angreifen, und denjenigen, die sich selbst verteidigen. Nicht einmal wurde das Ausmaß der Gewalttaten für sich betrachtet. Ich kenne kein anderes Massenverbrechen der jüngeren Geschichte, denken wir etwa an Srebrenica, Ruanda oder auch Butscha, nach dem die internationale Gemeinschaft so schnell zur Tagesordnung übergegangen ist. Ein Moment des Respekts und der Stille wäre hier gerade von den Kirchen zu erwarten. Ein solcher Moment hat auch nichts mit der Frage zu tun, wie man politisch zu den Palästinensern steht.
Bei »Black Lives Matter«, »Fridays for Future International«, auch am ÖRK sieht man: Im postkolonialen Diskurs scheint es Probleme mit Antisemitismus zu geben. Wie ist Ihre Einschätzung?
In der postkolonialen linken Bewegung wird infrage gestellt, dass es überhaupt einen jüdischen Staat im Nahen Osten gibt. Israel wird als koloniales Projekt angesehen, Juden sind nach dieser Logik als koloniale Besatzer ein verlängerter Arm des Westens. Damit sind nicht die besetzten Gebiete von 1967 gemeint, sondern die bloße Existenz eines jüdischen Staates. Dort fängt das Problem schon an. Juden leben seit biblischen Zeiten in dem heutigen Gebiet Israels. Im identitätspolitischen Diskurs wird zwischen Weißen und Nicht-Weißen unterschieden. Die Weißen sind Unterdrücker, die Nicht-Weißen Unterdrückte. In diesem einfachen Schema werden israelische Juden den Weißen zugeordnet und haben damit die Rolle der Unterdrücker, die Palästinenser sind in diesem Diskurs immer nur Opfer. Dadurch entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr, und Juden wird die Schuld dafür angelastet, dass jüdische Kinder abgeschlachtet werden. Ein antisemitisches Narrativ, das bis ins Mittelalter zurückreicht.
Was ist mit Kritik an der israelischen Regierung?
Dass israelische Bürger Opfer einer terroristischen Attacke der Hamas geworden sind, macht nicht nachträglich die Fehler der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu gut. Sicherlich ist die Kritik an der in Teilen rechtsextremen Regierung immer noch richtig. Irgendwann müssen wir eine politische Debatte über die Perspektive dieser Region und einer möglichen Koexistenz zweier Nationalstaaten führen. In Deutschland spüre ich aber eine Überheblichkeit in der Diskussion über die Angemessenheit einer militärischen Reaktion. Eins muss man klar sagen: Es ist nicht das Ziel der israelischen Armee Zivilisten zu töten, ganz im Gegenteil zur Hamas, zu deren Strategie genau das gehört.
Deutsche Spitzenpolitiker sprechen seit dem Anschlag wieder von der deutschen »Staatsräson«. Hat dieser Begriff überhaupt eine Bedeutung?
Seit der Ära Merkel gibt es diesen Begriff der Sicherheit Israels, die deutsche Staatsräson ist. Aber hier sieht man eine große Diskrepanz zwischen dem politischen Handeln und der Meinung der Bevölkerung. Die deutsche Politik ist über Parteigrenzen hinweg in der Lage, ein klares moralisches Statement gegen den Terror der Hamas zu setzen. In der Gesellschaft kam das nicht ansatzweise zustande. In den 80er Jahren gab es Schlussstrichforderungen aus dem rechtskonservativen bis rechtsextremistischen Lager. Heute stehen linke Studierende vor dem Auswärtigen Amt und rufen »Free Palestine from German Guilt«. Auch wenn die Erinnerungskultur in Deutschland eine lange Tradition hat, ist offenbar eine ganze Generation da nicht mehr mitgekommen. Für mich wackelt nicht nur das Verhältnis zu Israel in der Bevölkerung, es wackelt die moralische Orientierung unserer Gesellschaft. Für Juden ist das keine theoretische, sondern eine existenzielle Frage.
Was folgt daraus für die jüdische Community in Deutschland?
Ich kann da nur für mich sprechen. Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit und sehe meine Verantwortung darin, dafür zu kämpfen, dass auch meine Stimme gehört wird. Weggehen ist für mich keine Option. Zumal ich nicht weiß, wo Juden in dieser Zeit überhaupt sicher sind auf dieser Welt. Mir geht es darum, Verbündete zu finden, die ähnliche Werte und Vorstellungen als Grundlage für unser Zusammenleben vertreten. Menschen mit Rückgrat suche ich gerade ziemlich verzweifelt.