Es hätte ein besonderer, besinnlicher Tag sein können, dieser 11. August: Auf diesen Tag fiel dieses Jahr der jüdische Fasten- und Trauertag Tischa beAw, an dem Juden der Zerstörung des Tempels gedenken, und zugleich begann das muslimische Opferfest Eid Al-Adha – wegen der unterschiedlichen Kalender in Islam und Judentum eine höchst seltene Konstellation. Doch statt heiliger Stimmung füllte Tränengas die Luft über dem Tempelberg, flogen Stühle und Steine, wieder einmal.
Er wird oft als Herz des israelisch-palästinensischen Konflikts beschrieben, als Auge des Sturms, als Minenfeld: der Tempelberg in Jerusalem mit der Westmauer, dem letzten erhaltenen Überrest des Zweiten Jüdischen Tempels, der einst dort stand, heiligster Ort des Judentums. Haram Ash-Sharif nennen wiederum die Muslime den Berg, »nobles Heiligtum«, auf dem die Al-Aksa-Moschee steht, die drittwichtigste Stätte des Islam nach Mekka und Medina. An diesem Ort, der zwei Weltreligionen als heilig gilt, kommt es regelmäßig zu höchst unheiligen Szenen, wie zuletzt am vergangenen Sonntag.
Der Mufti verlegte das Gebet eine Stunde nach hinten, um Juden den Zutritt zu verweigern.
Für gewöhnlich dürfen Nichtmuslime das Tableau zu festgelegten Zeiten besteigen, jedoch dort nicht beten – so lautet der Status quo, der das Miteinander der Religionen am Tempelberg regelt, seit Israel das Areal 1967 von Jordanien eroberte und dessen Verwaltung dem Waqf übertrug, einer islamischen, von Jordanien aus geführten Stiftung. Aus theologischer Sicht ist die Frage, ob Juden den Tempelberg besteigen dürfen, höchst umstritten; die meisten orthodoxen Rabbiner lehnen dies ab – aus Sorge, der Standort des Allerheiligsten könnte dabei entehrt werden.
Dennoch hat in den vergangenen Jahren die Zahl jüdischer Besucher stetig zugenommen – ebenso wie das Ausmaß muslimischer Proteste gegen diese Entwicklung.
KAPITULATION Zwei Tage vor Beginn des muslimischen Opferfests verkündete der Mufti von Jerusalem, Scheich Mohamed Hussein, das Festtagsgebet um eine Stunde nach hinten zu verlegen, mit dem Ziel, jüdischen Besuchern den Zutritt zu dem Plateau zu verweigern.
Tatsächlich beschloss die israelische Polizei zunächst, Juden aus Sicherheitsgründen den Aufstieg zum Tempelberg zu verbieten – eine Entscheidung, die Politiker aus dem rechten Spektrum heftig kritisierten. »Die Entscheidung, am heiligsten Ort des Judentums vor arabischem Terror und Gewalt zu kapitulieren, ist die Ursache dafür, dass in anderen Bereichen (unsere) Abschreckungskraft verloren geht«, sagte etwa Verkehrsminister Bezalel Smotrich von der Vereinigten Rechten Partei.
Nach dem Gebet am Morgen des Feiertages begannen einige Muslime laut israelischen Polizeiangaben, Stühle und andere Objekte auf die Sicherheitskräfte zu werfen.
Doch im Laufe des Tages änderte sich die Lage. Nach dem Gebet am Morgen des Feiertages begannen einige Muslime laut israelischen Polizeiangaben, Stühle und andere Objekte auf die Sicherheitskräfte zu werfen, die daraufhin versuchten, mit Blendgranaten und Tränengas die Menge aufzulösen.
Wenig später dann änderte die Polizei ihre Einschätzung der Lage und erlaubte es jüdischen Besuchern, in kleinen Gruppen den Berg zu betreten, umrundet von Sicherheitskräften. Sofort brandeten die Proteste der Muslime wieder auf. »Allahu akbar!«, riefen sie, warfen Stühle und andere Objekte. Die jüdischen Besucher ließen sich jedoch nicht abschrecken: 1700 hatten laut Medienberichten am Ende des Tages den Tempelberg betreten, mehr noch als im Jahr zuvor, ein neuer Rekord. Rund 61 Muslime wurden laut palästinensischen Berichten während der Ausschreitungen verletzt; die israelische Polizei sprach von vier verletzten Beamten.
GAZA Die jüngsten Zusammenstöße in Jerusalem fallen in eine Phase erhöhter Spannung. Am vergangenen Samstag versuchten vier bewaffnete Palästinenser, die Grenze von Gaza nach Israel zu überwinden, und wurden dabei von israelischen Soldaten erschossen. Nur einen Tag später näherte sich ein weiterer Mann dem Grenzzaun und schoss auf israelische Soldaten, bevor er selbst erschossen wurde. Und am vergangenen Donnerstag wurde ein 19-jähriger Jeschiwastudent im Siedlungsblock Gusch Etzion südlich von Jerusalem erstochen aufgefunden.
Palästinensische Agitatoren rufen ihre Anhänger zu Protesten und Gewalttaten auf.
Zwar lässt sich kein direkter Zusammenhang zwischen den gewaltsamen Vorfällen herstellen, doch erfahrungsgemäß ziehen Spannungen in Jerusalem oft weite Kreise: Die Warnung »Die Al-Aksa-Moschee ist in Gefahr!« erweist sich seit Langem als effektives Mittel palästinensischer Agitatoren, um Anhänger zu Protesten und gelegentlich Gewalttaten zu mobilisieren.
HAMAS Medienberichten zufolge ließen Polizisten es an Tischa beAw zu, dass jüdische Besucher kurze Gebete sprachen – eine Praxis, die die islamische Waqf-Stiftung strikt ablehnt und die israelische Sicherheitskräfte bisher unterbunden hatten. Aktivisten, die die jüdische Präsenz auf dem Tempelberg verstärken wollen, hatten laut Medienberichten Gläubige dazu aufgerufen, möglichst zahlreich zu erscheinen, um zu »zeigen, dass der Ort uns wichtig und heilig ist«. Der islamische Waqf wiederum hatte am Freitag vor dem Eid Al-Adha angewiesen, dass alle Moscheen Jerusalems mit Ausnahme der Al-Aksa-Moschee am Feiertag schließen müssten, um ihrerseits die Zahl der Muslime auf dem Tempelberg zu erhöhen.
Derweil hat sich die Lage in Jerusalem wieder beruhigt – doch wie nach jeder neuen Ausschreitung am Tempelberg fürchten viele, dass die Ruhe von kurzer Dauer sein könnte. In den sozialen Medien verbreiten sich die Bilder verletzter muslimischer Demonstranten. Und die Hamas ließ drohend verlauten: »Was Israel und die Siedler Al-Aksa antun, wird auf sie zurückfallen.«