Sie kommen aus allen Berufen, ethnischen Gruppen und sozialen Schichten: Frauen, die sexuell belästigt oder vergewaltigt wurden. Jetzt haben sie genug vom Schweigen. »Gam ani« (Ich auch) tönt dieser Tage lautstark durch Israel. Im Internet, im Radio, im Fernsehen. Vor einigen Tagen machte die größte Tageszeitung des Landes, Yedioth Ahronoth, mit den Erfahrungsberichten von prominenten Frauen auf: Models, Geschäftsfrauen, Schauspielerinnen, Sportlerinnen und Politikerinnen klagen an.
Auf der Titelseite ist Orna Banai zu sehen. Daneben steht in fetten Lettern: »Ja, auch ich wurde vergewaltigt.« Die berühmte Schauspielerin und Komödiantin spricht schonungslos Klartext: »Es war nicht einmal, nicht zweimal. Einfach so. Vergewaltigt. Nicht von Fremden, sondern von Männern, die ich kannte und die es verlangten. Ich bin sicher, dass die meisten Frauen dieses unerträgliche Gefühl kennen, ein sexuelles Objekt zu sein.«
Yael Arad, Olympionikin im Judo, berichtet, dass Männer dreimal versucht hätten, sie sexuell zu missbrauchen oder zu nötigen. »Und«, hebt sie hervor, »das geschah trotz meines Images und meiner physischen Fähigkeiten als Judoka.« Das Model Maayan Keret, das international arbeitet, erzählt seine traurige Wahrheit: »Ich wurde vergewaltigt, als ich zwölf Jahre alt war. Seitdem bin ich von Männern so oft angegriffen oder belästigt worden, dass ich aufgehört habe zu zählen.«
Katsav Seit dem Skandal um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, der gegen Dutzende von Schauspielerinnen, Models, Journalistinnen und andere massiv übergriffig geworden ist, sprechen sich Frauen in der ganzen Welt ihren Schmerz und ihre Wut von der Seele. Auch in Israel. Das Land kennt seine eigene schamhafte Geschichte: Vor rund sieben Jahren erschütterte der Skandal um den einstigen Präsidenten Mosche Katsav die Gesellschaft.
Der hochrangige Politiker wurde wegen schwerwiegender sexueller Übergriffe gegen ihm unterstellte Frauen schuldig gesprochen und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Er sitzt noch immer im Gefängnis, doch Reue zeigte er nie. Die Richter aber sahen es als erwiesen an, dass Katsav in seiner Zeit als Tourismusminister eine Frau in seinem Büro vergewaltigt und sexuell belästigt sowie eine andere Beschäftigte in seiner Residenz sexuell misshandelt und genötigt hatte. »Niemand steht über dem Gesetz«, argumentierten sie damals.
Kündigung »Im Grunde genommen war das unser Harvey Weinstein«, meint Orit Levy. »Doch leider haben wir es nicht ernst genug genommen, um eine Wende in der Gesellschaft herbeizuführen. Vielleicht musste es erst von außen kommen.« Die Programmiererin aus Tel Aviv hat damals begonnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Zuvor hatte sie es nie erwähnt. »Es war mein Vorgesetzter in meinem ersten Job. Er akzeptierte einfach kein Nein und bedrängte mich immer wieder, bis er schließlich sein Ziel mit Gewalt erreichte. Einen Monat darauf habe ich gekündigt.«
Warum sie ihn nicht sofort anzeigte? »Weil es seinerzeit die Kultur war, nicht darüber zu sprechen, sondern einfach weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Dieser Chef galt als toller Typ, er hatte eine erfolgreiche Firma aufgebaut, war weltgewandt und beliebt. Als ich etwas davon bei einem Kollegen nur vage andeutete, war ich sofort die Schuldige, ›die das Betriebsklima verdirbt‹. Ich erinnere mich noch genau, wie schmutzig ich mich gefühlt habe. Ich wollte nur eines, dass das alles aus meinem Leben verschwindet. Also habe ich es verdrängt und meinen Job aufgegeben.«
Durch den Skandal mit Katsav allerdings sei es wieder in ihr Bewusstsein gelangt, erinnert sich Levy. »Diese Frauen, die plötzlich über ihre schrecklichen Erlebnisse Zeugnis ablegten, machten mir Mut. Sie sprachen immerhin über einen Ex-Präsidenten. Da dachte ich, jetzt kann ich meinen Mund nicht mehr halten.«
Armee Anderen Israelinnen ging es einige Jahre darauf ähnlich. Sie fühlten sich bestätigt, als 2016 die Verfehlungen des Brigadegenerals Ofek Buchris ans Licht kamen. Der hochdekorierte Militärangehörige soll eine Untergebene vergewaltigt haben. Die Knessetabgeordnete Merav Ben-Ari (Kulanu) machte jetzt ihre eigenen Erfahrungen aus ihrer Armeezeit öffentlich: Männliche Soldaten in ihrer Basis hätten sie regelmäßig verbal missbraucht und begrabscht. Der Chef der Streitkräfte will ein Ende dieser Kultur des Schweigens: »Ich werde auch weiterhin keinerlei Toleranz für Übergriffe oder sexuelle Nötigung in der IDF zeigen«, betonte Gadi Eizenkot.
Gal Schargil und Schlomit Havron sammeln bereits seit vier Jahren Stimmen von Frauen auf Facebook, um zu zeigen, wie weit verbreitet sexuelle Übergriffe gegen Frauen tatsächlich sind. Ihre Initiative »One Out of One« hat mittlerweile mehr als 2500 Berichte dokumentiert. Die Mehrzahl davon ist anonym, denn noch immer gebe es eine Atmosphäre der Angst vor Repressalien, meinen sie. »Aber wir wollen keine Opfer mehr sein. Wir wollen nicht mehr sagen: ›Ich auch‹.«
Doch leider sei es die Realität, und deshalb müssten Frauen das Erlebte aussprechen und es ans Tageslicht bringen, sind die beiden überzeugt. »Damit alle wissen, dass wir die Überlebenden von sexueller Gewalt sind.«