Zwei Mal Raketenalarm in der deutschen Botschaft und wenig später der Abschuss zweier Hamas-Raketen direkt über dem startbereiten Regierungsflieger am israelischen Flughafen Ben Gurion. Bei seinem kurzfristig anberaumten Besuch in Israel hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Dienstag reichlich Gelegenheit zu beweisen, dass das mittlerweile geflügelte Wort von der Sicherheit israelischer Bürger als deutscher Staatsräson im Kriegsfall mehr bedeutet als eine leere Floskel.
»Alle raus hier!«, lautete die Ansage an die Fluggäste, die am Abend schon zum Weiterflug der deutschen Regierungsmaschine nach Kairo eingecheckt hatten. Während der Kanzler sofort mit dem Auto in ein nahe gelegenes Flughafengebäude gebracht wurde, in dem sich Schutzräume befinden, hieß es für andere Fluggäste und die begleitenden Journalisten: »Alle auf den Boden.«
In der Luft lagen Ungewissheit, eine große Ratlosigkeit und Angst
Dort, auf dem von der Sonne noch warmen Beton, war ein lauter Knall zu hören, als Israels »Iron Dome« die beiden Raketen der Terrororganisation Hamas abfing. Die Flugroute von Tel Aviv nach Kairo wurde daraufhin leicht geändert. Am Dienstagabend landete die Maschine sicher in Kairo.
Zuvor, am Nachmittag, standen vor dem Hauptquartier der israelischen Luftwaffe in Tel Aviv Soldatinnen und Soldaten, starrten auf ihre Mobiltelefone oder telefonierten. In der Luft lagen Ungewissheit, eine große Ratlosigkeit und Angst. Nach den brutalen Massakern der Hamas am 7. Oktober mit mehr als 1400 ermordeten Israelis, die meisten von ihnen Zivilisten, hatte Israel zunächst eine Bodenoffensive gegen die Terrororganisation im Gazastreifen angekündigt – und der Iran mit einer Reaktion im Fall einer umfassenden israelischen Invasion gedroht.
In der Lobby des Verteidigungsministeriums in Tel Aviv ließen sich unterdessen Reservisten registrieren, die zur Armee eingezogen wurden oder sich freiwillig gemeldet hatten. »Jeden Tag kommen 1500!«, sagte eine junge Soldatin. »Es sind so viele, dass unser Büro nicht ausreicht. Wir haben hier extra einen Stand aufgebaut«, erklärte eine zweite. Im Auditorium des Hauptquartiers gab Scholz wenig später eine gemeinsame Pressekonferenz mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Auch dort sprach der Kanzler von der Sicherheit Israels als Staatsräson.
Scholz ist voller Empathie für Israel
Die Reise von Scholz nach Israel war ein überdeutliches Zeichen der Solidarität – und ein Versuch der Pendeldiplomatie auch mit Jordanien, Katar, Ägypten und den USA, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern. Anders als im Fall der von Russland im Februar 2022 überfallenen Ukraine, die der Kanzler erst mehrere Monate nach Kriegsbeginn besucht hatte, war der SPD-Politiker zehn Tage nach dem Massenmord der Islamisten im jüdischen Staat zur Stelle. Auf dem Hinflug wurde er von Israels Botschafter in Berlin, Ron Prosor, begleitet und nach der Landung von Israels Außenminister Eli Cohen begrüßt.
Schon im Vorfeld hatte der Kanzler keinen Zweifel daran gelassen, dass nach den grausamen Massakern Israel seine besondere Empathie gilt. Niemals zuvor seit dem Ende der Schoa waren mehr Juden an einem einzigen Tag ermordet worden.
Netanjahu, der bei der Pressekonferenz als Erster redete, wählte starke Worte in diesem Zusammenhang. »Hamas sind die neuen Nazis. Hamas ist ISIS und in mancher Hinsicht schlimmer als ISIS.« In dieser Situation müsse die Welt hinter Israel stehen, um die Bedrohung abzuwenden, betonte der israelische Regierungschef. Dabei mustert er wiederholt die Zuhörer, wie um sich ihrer Reaktionen zu vergewissern.
»Der brutale Terror gegen Zivilisten lässt uns das Blut in den Adern gefrieren«, betont Scholz.
Olaf Scholz sagte: »Den blutrünstigen Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel verurteilen wir auf das Schärfste. Der brutale Terror gegen unschuldige Zivilisten, die Hinrichtung wehrloser Bürgerinnen und Bürger, die Ermordung von Säuglingen, die Verschleppung von Frauen, Männern und Kindern, die Demütigung und Zurschaustellung von Schoa-Überlebenden – all das lässt uns das Blut in den Adern gefrieren.« Der Kanzler betonte, Israel habe das völkerrechtlich verbriefte Recht und die Pflicht, sich gegen den Terror zu wehren.
Nach der Pressekonferenz sprach Scholz mit Israels Staatspräsident Isaac Herzog und fuhr anschließend in die deutsche Botschaft in Tel Aviv, um mit Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts, und Angehörigen der Menschen zusammenzutreffen, die von Hamas-Terroristen nach Gaza entführt worden waren.
»Alle raus hier«, lautet die Ansage in der Botschaft
Vor der Tür der Botschaft hielten Freunde und Verwandte der Deutsch-Israelin Shani Louk eine Mahnwache ab; die 22-Jährige hatte an dem mörderischen Wochenende das Rave-Festival »Supernova« im Süden Israels besucht. Dort war sie am 7. Oktober schwer verletzt und gekidnappt worden. Ihr Schicksal ist bisher ungewiss.
Während die Journalisten noch an ihren Berichten über die Pressekonferenz tippten, ertönten Sirenen. »Alle raus hier«, lautete die Ansage in der Botschaft, »wir haben eineinhalb Minuten.« Die Journalisten wurden ins Treppenhaus gebracht, wo auch die Aktivisten Schutz suchten – mit einem großen Plakat, darauf ein Foto des Kanzlers mit der Aufschrift: »Nur Scholz kann Shani retten.«
Der deutsche Bundeskanzler, Benny Gantz und seine Gesprächspartner saßen unterdessen in einem Schutzraum im sechsten Stock. Nach drei Minuten: Entwarnung. Zehn Minuten später heulten erneut die Sirenen, wieder hieß es: »Zewa Adom, alle raus hier.«
»Alle sprechen von einer Bodenoffensive, aber es könnte etwas anderes sein«
Vor seiner Abreise nach Kairo stoppte die Kolonne von Olaf Scholz noch am Dizengoff-Platz in Tel Aviv. Die Straßen der sonst so lebendigen Stadt waren menschenleer, Restaurants und Bars geschlossen. Vor dem großen Brunnen spielte ein religiöser Jude Gitarre, andere begleiten ihn mit Gesang: »Am Israel Chai«. Viele Kerzen sind an allen Seiten des Platzes aufgestellt, um an die Opfer des Terrors zu erinnern. Auch Olaf Scholz entzündete eine Kerze.
Dass dieser Terror längst nicht besiegt ist, zeigte sich wenig später bei dem Raketenangriff am Flughafen – und offenbar auch bei einem nächtlichen Angriff auf ein Krankenhaus in Gaza mit einer bisher ungeklärten Zahl von Todesopfern. Während die Hamas Israel beschuldigte, erklärten die israelische Armee und Regierungschef Netanjahu, dass eine auf Israel gerichtete und fehlgeleitete Rakete der Terrororganisation Islamischer Dschihad in der Al-Ahli-Klinik eingeschlagen war.
Über humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza und Möglichkeiten der Befreiung für die etwa 200 Geiseln der Hamas sprach Scholz am Mittwochmorgen mit Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi.
Ägypten: Wir nehmen keine Flüchtlinge aus Gaza auf
Nach seinem Gespräch mit dem Bundeskanzler am Mittwochmorgen betonte der ägyptische Präsident al-Sisi mehrfach bei dem Pressestatement mit Scholz in seinem Palast, eine Aufnahme von Einwohnern Gazas als Flüchtlinge auf die Sinai-Halbinsel komme für Ägypten aus verschiedenen Gründen nicht infrage.
Scholz hingegen sagte kurz vor seinem Rückflug aus Kairo nach Berlin am Mittag in einem Extra-Statement vor Journalisten, in den letzten Tagen habe sich etwas bewegt, was die vorübergehende Öffnung der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifens angehe, um zunächst einmal humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen. Damit sei man einen wichtigen Schritt weitergekommen.
Außerdem betonte der Kanzler, die Bundesregierung werde niemals hinnehmen, dass jüdische Einrichtungen in Deutschland angegriffen würden. Der Schutz der Einrichtungen würde verstärkt, versicherte Scholz.
Scholz: Es bewegt sich etwas bei der Öffnung der Grenze zwischen Ägypten und Gaza
Ebenfalls am Mittwoch wurde US-Präsident Joe Biden in Israel erwartet – mit einer ähnlichen Mission wie Scholz. Der Kanzler sagte in Tel Aviv, seine Regierung setze sich mit aller Kraft dafür ein, dass der Konflikt nicht eskaliere: »Es gilt, einen Flächenbrand in der Region zu verhindern. Ausdrücklich warne ich: Kein Akteur sollte es für eine gute Idee halten, nun von außen in den Konflikt einzugreifen. Es wäre ein schwerer, ein unverzeihlicher Fehler.«
Was die mobilisierten israelischen Soldatinnen und Soldaten in den nächsten Tagen erwartet, blieb bis Redaktionsschluss am Mittwochmorgen unklar. Nach den Worten eines Armeesprechers erwägt das Land offenbar Alternativen zu einer Bodenoffensive. Demnach bereite sich Israel im Gazastreifen auf »die nächsten Stufen des Krieges« gegen die dort herrschende islamistische Terrororganisation Hamas vor.
»Alle sprechen von einer Bodenoffensive, aber es könnte etwas anderes sein«, sagte Armeesprecher Richard Hecht am Dienstag laut einem dpa-Bericht. Am Mittwochmorgen kündigte das israelische Militär die Einrichtung einer Stadt humanitären Zone im Süden des Gazastreifens an.
Transparenzhinweis: In unserer ursprünglichen Fassung vom 18. Oktober war von mehreren hundert Toten bei dem Raketeneinschlag an dem Krankenhaus in Gaza die Rede. Zuletzt sprach das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium im Gazastreifen von 471 getöteten Palästinensern. Bildmaterial, das Hinweise auf solch hohe Opferzahlen geben könnte, fehlt aber bislang. Die israelische Armee verweist auf Geheimdienstinformationen, wonach diese Zahl «als Teil einer Desinformationskampagne übertrieben wurde». Eine anonyme Quelle aus europäischen Geheimdiensten spricht nach Informationen der französischen Nachrichtenagentur AFP davon, dass es «nicht 200 oder gar 500 Tote» gebe, «sondern eher ein paar Dutzend». (mit dpa)