Stimmung

Geisterstadt am Mittelmeer

Tausend kleine Lämpchen an Lichterketten baumeln im warmen Sommerwind und tauchen den zentralen Platz von Jaffa in einen romantischen Schein. An einem Tisch des neuen italienischen Restaurants lehnt ein Kellner im Livree und gähnt. Er gibt sich nicht einmal Mühe, seine Langeweile zu verbergen. Gäste kommen sowieso nicht. Es ist Freitagabend, eigentlich Hochkonjunktur in der antiken Touristenhochburg neben Tel Aviv. Doch heute ist sie fast menschenleer. »Es ist hier jeden Abend wie auf einer Hochzeit, zu der keiner kommt«, raunt der Kellner und verschwindet in die Küche. Der Krieg mit Gaza hat aus der Metropole am Mittelmeer eine Geisterstadt gemacht.

Seit drei Wochen wagen sich die Menschen kaum mehr auf die Straßen. Sie haben Angst, beim Sirenenalarm unvorbereitet zu sein, nicht zu wissen, wo der nächste Bunker liegt. So fahren sie morgens direkt ins Büro, kehren am frühen Abend wieder heim und verlassen dann das Haus am besten gar nicht mehr. Einkäufe werden in Windeseile erledigt. Viele finden es nicht angemessen, im Angesicht des Todes das Leben zu feiern.

Leere »Ich habe Tel Aviv so noch nicht erlebt.« Amit Dan kommt gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Die Studentin war für drei Wochen im Urlaub in den USA und ist erst vor einem Tag nach Israel zurückgekehrt. Während sie mit ihrem Hund an der Strandpromenade spazieren geht, schaut sie sich um und schüttelt wieder und wieder den Kopf wegen der Leere um sich herum. »Ich habe schon am Flughafen gemerkt, dass irgendetwas anders ist, weil sowohl Abflug- als auch Ankunftshalle verlassen dalagen. Aber das hätte ich nie für möglich gehalten. Es ist regelrecht gespenstisch. Wir Israelis sind ja leider an Kriege gewöhnt. Unser Motto ist, dass das Leben weitergeht. Doch jetzt müssen wir schmerzhaft erfahren, dass das Leben, so wie wir es kennen und lieben, eben doch nicht einfach immer so weiterläuft.«

Obwohl viele Israelis aus Solidarität mit den kämpfenden Soldaten Reisen ins Ausland storniert haben und ihrer Nation mit ihrer Anwesenheit den Rücken stärken wollen, ist von Ferien nichts zu spüren. Selbst die sonst jede Nacht durch die Straßen ziehenden Teenager sind nicht zu sehen. Sigal Levi ist Mutter von zwei Kindern in Tel Aviv: »Es geht nun schon drei Wochen so. Fast täglich ist mindestens ein Alarm, und wir laufen in den Schutzraum. Wir müssten uns eigentlich daran gewöhnt haben. Aber das geht nicht. Es trifft noch immer mitten ins Herz, wenn die Sirene plärrt.«

Der Geist des Gazakrieges hat sich auch auf der beliebtesten Straße der Stadt breitgemacht: dem Rothschild-Boulevard. In lauen Sommernächten sitzen die Tel Aviver mit Vorliebe in den Restaurants am Straßenrand und schauen den Spaziergängern hinterher. Auf den Parkbänken unter den mächtigen Birken und Akazien ist an gewöhnlichen Tagen kaum ein Platz zu erhaschen. Denn auch die, die knapp bei Kasse sind, wollen sich das Flair der baumgesäumten Allee nicht entgehen lassen. Der am:pm-Supermarkt um die Ecke hat rund um die Uhr geöffnet und ist sonst gut besucht. In diesen Tagen jedoch ist freie Auswahl. Fast ausgestorben liegt die Allee in der Sommernacht da.

einsperren Nur in dem Café, das seine Hausnummer als Namen trägt, sind einige Tische auf der Terrasse besetzt. Die Gäste knabbern gesalzene Mandeln oder teilen sich Tapas. »Das ›13‹ ist derzeit das angesagteste Lokal der Meile«, weiß Merav Nissan. »Normalerweise wartet man eine halbe Stunde auf einen Tisch, heute musste ich nicht eine Sekunde anstehen«, sagt sie und schaut sich um. »Die Hälfte der Plätze ist ja leer.« Warum sie gekommen ist? »Eigentlich möchte ich gar nicht raus. Aber mir ist die Decke auf den Kopf gefallen. Auch ohne Rakete. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, rief eine Freundin an, und siehe da, der ging es genauso. Wir lassen uns doch von der Hamas nicht endlos einsperren.«

Nur einen Tag lang schien die Großstadt zu ihrer Normalität zurückzukehren: während der Waffenruhe am vergangenen Samstag. Zu Zehntausenden strömten die Tel Aviver plötzlich auf die Straßen, flanierten auf und ab, sogen genüsslich die Stadtluft ein und spürten zum ersten Mal nach zwei Wochen wieder etwas wie gewöhnliches Nachtleben.

Solidarität Am selben Abend demonstrierten auf dem Rabinplatz vor dem Rathaus etwa 7000 Israelis gegen den Krieg. Doch statt Wut war eher Verzweiflung zu spüren. »Wegen der Toten auf beiden Seiten«, wie Maya Cohen sagte, die sich jeden Tag eine solche Demo wünschen würde. »Damit das unsinnige Sterben endlich aufhört.« Einen wahren Sinn habe Krieg nie, meint die 32-Jährige, doch dieser sei extrem pervers. Am Ende komme ohnehin nichts dabei heraus. Die Hamas werde nach einer Weile wieder Raketen abschießen, die israelische Armee zurückfeuern. »Wir scheinen in diesem Kreis des Wahnsinns gefangen zu sein.«

Rafael Bitton findet es überhaupt nicht wahnsinnig, momentan in Israel Urlaub zu machen. »Wir sind deshalb hergekommen«, sagt der französische Gast, während er sich auf seiner Liege am Banana Beach ausstreckt. »Wir sind Juden und unterstützen Israel in diesem gerechten Krieg gegen den Terror. Also haben wir unsere Ferien kurzfristig von der Provence hierher verlegt.« Der zweifache Familienvater hält es für absolut richtig, dass sich Israel vehement gegen die »Raketen der mörderischen Hamas« wehrt.

Hummus Nur wenige Kilometer vom Tel Aviver Strand entfernt rührt Omar in einem Topf mit warmem Hummus. Heute hat er nur die Hälfte gekocht. »Doch auch das werde ich sicher nicht los.« Die sechs Tische in dem einfachen, aber beliebten Lokal sind fast ständig belegt, vor allem am Samstag stehen die Menschen Schlange. Doch jetzt herrscht auch bei ihm gähnende Leere. Omar will die Hoffnung aber nicht aufgeben. »Ich kann nicht glauben, dass es wirklich real ist. Manchmal denke ich, ich bin in einem Albtraum gefangen.«

Seit Beginn der Offensive am 7. Juli, dem Tag, an dem die Raketen auch bis nach Tel Aviv flogen, sind die Kunden weggeblieben. Er habe Einbußen von 80 Prozent. In anderen Kriegen oder Krisen waren es maximal 20 Prozent der Einnahmen, die wegbrachen. »Alles, was wir haben, ist dieses Lokal. Davon leben meine Frau, meine beiden Söhne und ich. Langsam weiß ich nicht mehr weiter.« Doch selbst, wenn die Waffen sofort schweigen würden, dauere es sicher lange, bis wieder Normalität herrscht. »Die Gäste kommen hoffentlich bald wieder«, wünscht er sich. »Doch ich weiß, dass es nicht von einem Tag auf den anderen geschehen wird.«

trauer und wut »Die Tel Aviver haben große Angst und sind verunsichert, sie gehen kaum mehr aus dem Haus«, sagt Omar. Er spricht mit einer Mischung aus Trauer und Wut in der Stimme. Dass es auch daran liegen könnte, dass jüdische Gäste nicht mehr zu Arabern gehen wollen, will er nicht glauben. »Viele meiner jüdischen Kunden sind meine Freunde.«

Dann spricht Omar davon, wie sehr er Extremisten ablehne – auf beiden Seiten. »Sie wollen nur zerstören und hetzen andere auf. Durch diesen ganzen Hass werden am Ende Kinder entführt, erschossen und verbrannt. Das ist fürchterlich. Wenn es nicht aufhört ...«. Dann schweigt der Araber Omar, schaut kurz zu Boden und benutzt den jiddschen Ausdruck für ein schreckliches Unglück: »Oj wa awoj lanu!«

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