Sie glauben, Tel Aviv gut zu kennen, und lieben die etwas chaotische Stadt, die laut Eigenwerbung niemals schläft? Dann gibt es für Sie eine neue Pflichtlektüre. Denn die Historikerin und Journalistin Andrea Livnat präsentiert in einem liebevoll gestalteten und reichhaltig bebilderten Band 111 Orte in Tel Aviv, die man gesehen haben muss.
Die Autorin beschränkt sich nicht auf das bloße Auflisten von einigen Sehenswürdigkeiten, sondern weiß auch zu jedem dieser Orte eine interessante Geschichte zu erzählen. Und um es direkt vorwegzunehmen: Nein, das Buch ist nicht der zehnte Aufguss zum Thema »Tel Aviv – das Mekka der Bauhaus-Architektur«.
Beim Blättern und Lesen fragt man sich sofort, wie es sein kann, dass eine Stadt, die erst vor gut 100 Jahren gegründet wurde, bereits eine derart hohe Zahl von Attraktionen aufweisen kann, die nicht nur nähere Aufmerksamkeit verdienen, sondern auch eine eigene »Historie« haben. 1909 als bescheidene wie auch beschauliche Gartenstadt gegründet, besitzt Tel Aviv als erste hebräische Stadt der Moderne einen hohen symbolischen Wert und ist zugleich so etwas wie ein Laboratorium für den jüdischen Staat.
Moghrabi-Theater Die mit jeder Einwanderungswelle rapide wachsende Stadt musste sich immer wieder neu erfinden. Genau deshalb gingen sowohl ihre Stadtplaner als auch ihre Bewohner nicht immer gerade zimperlich mit dem eigenen Erbe um. Man erinnere sich nur an das wundervolle, im maurischen Stil errichtete Hebräische Herzliya-Gymnasium im alten Zentrum, das 1962 einem ziemlich hässlichen Betonklotz weichen musste, der allein deshalb gebaut wurde, weil man das höchste Gebäude des Nahen Ostens haben wollte.
Ebenso das einst legendäre Moghrabi-Theater am südlichen Ende der Ben-Jehuda-Straße, das irgendwann in den 80er-Jahren abgerissen wurde und wo heute nur noch ein schäbiger Parkplatz zu finden ist.
Die 111 Orte sind deshalb auch Momentaufnahmen einer jungen Stadt. Schließlich kann niemand mit Gewissheit sagen, ob sie auch morgen noch am selben Platz zu finden sein werden. So wie das alte Eden-Kino am Ende der Lilienblum-Straße, das wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Welt- kriegs passenderweise mit dem Film Die letzten Tage von Pompeji eröffnet wurde und wo bis zu seiner Schließung 1974 Shirley Temple auf der Leinwand tanzte oder Charlie Chaplin auf Goldsuche ging.
Eden-Kino Heute steht es wie so viele andere Baudenkmäler aus den Kindertagen Tel Avivs verlassen da und bedarf genauso dringend einer Sanierung wie die alte Lodzia-Textilfabrik von 1924, die von dem Stadtgründer Akiva Aryeh Weiss in der Nachmani-Straße errichtet wurde und die aufgrund ihrer Bauweise aus roten Ziegeln ein Unikum in der Tel Aviver Architekturlandschaft darstellt.
Oder aber kleine Oasen der Ruhe, wie die »anonyme« und die »unbekannte Gasse«, die beide etwas versteckt abseits der turbulenten King-George-Straße liegen. Dort ließ Meir Getzel Shapiro, ein reicher Jude aus Detroit, 1922 ein wunderschönes Gebäudeensemble im eklektischen Stil samt Löwenstatue errichten. Seine von ihm vergötterte Frau Sonja sollte sich an der für sie wohl fremden Levante auf Anhieb wohlfühlen.
Weil aber weder Geld noch gute Worte Tel Avivs ersten Bürgermeister Meir Dizengoff dazu bewegen konnten, beide Gassen nach Herrn und Frau Shapiro zu benennen, heißen sie bis heute weiter die »Anonyme« und die »Unbekannte«. Vielleicht wäre es für Herrn Shapiro ein kleiner Trost, wenn er wüsste, dass sich dort heute immerhin ein Café namens »Sonja Getzel« etablieren konnte, das für seine Shakshukas und seinen bezaubernden Garten bekannt geworden ist.
Pilgerstätte Auf der Liste der 111 Orte befinden sich ferner der bereits 1902 angelegte Trumpeldor-Friedhof, wo das gesamte Who’s who der frühen politischen und kulturellen Elite begraben liegt. Weil es dort eigentlich schon lange keinen Platz mehr gibt, muss man schon entweder sehr vermögend oder prominent – am besten beides – sein, um dort seine letzte Ruhestätte zu finden. Aktuellster »Neuzugang« war der 2013 verstorbene Sänger Arik Einstein, dessen Grab zu einer Art Pilgerstätte seiner Fans geworden ist, vergleichbar mit dem des einstigen Doors-Frontmanns Jim Morrisons auf dem Père Lachaise in Paris.
Relativ neuen Datums ist der Schnullerbaum im Hayarkon-Park, der Kindern dabei helfen soll, sich von ihrem zahnschädigenden Liebling zu verabschieden und ihn an einen seiner Äste zu hängen. Selbstverständlich geht dieses feierliche Ritual nur in Anwesenheit von vielen Freunden und Verwandten über die Bühne und kommt in seinen Dimensionen einer Art öffentlicher Barmizwa gleich.
Egal, was man sucht, das Buch von Andrea Livnat beweist auf jeden Falls eines: Die Stadt steckt voller Überraschungen, langweilig wird es dort nie.
Andrea Livnat: »111 Orte in Tel Aviv, die man gesehen haben muss«. Emons, Köln 2015, 240 S., 14,95 €