An Israels Nordgrenze wachsen die Spannungen. Die Armee bereitet sich seit Tagen auf alle möglichen Szenarien vor. »Stellt uns nicht auf die Probe«, warnte am Dienstag Premier Benjamin Netanjahu die schiitische Miliz Hisbollah im Libanon. Bei Redaktionsschluss war es zwar ruhig. Aber wenn es nach der Hisbollah geht, ist eine Attacke auf Israel nur eine Frage der Zeit.
Die schiitische Miliz würde sich damit für den Tod eines ihrer Kämpfer rächen wollen, der bei einem Angriff der israelischen Luftwaffe auf iranische Ziele in Syrien getötet worden war. Israel versuchte in der Folge, die Lage mit einem Schreiben an die UN zu entspannen, in dem von einem »Versehen« die Rede ist, und bat, diese Botschaft in den Libanon weiterzuleiten. Doch Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bleibt bei seiner Drohung. »Die Zionisten« würden in »zwei, drei oder vier Tagen« daran erinnert, mit wem sie es zu tun haben, sagte er sinngemäß.
KÄMPFER Am Montag gab die IDF an, einen Infiltrationsversuch von Hisbollah-Milizen an der nördlichen Grenze verhindert zu haben. Die Bewohner der Region Har Dov waren angewiesen worden, zu Hause zu bleiben, Straßen in der Region wurden gesperrt. Um die Lage zu deeskalieren, verzichtete die Armee darauf, die kleine Gruppe von Hisbollah-Kämpfern auszuschalten, die nach Israel vorgedrungen war. Die Kämpfer hätten sich wieder in den Libanon zurückgezogen, hieß es, Verletzte habe es nicht gegeben. Die Armee hatte bereits Ende vergangener Woche eine Verstärkung ihrer Truppen im Norden des Landes angekündigt.
Will Nasrallah tatsächlich eine Eskalation riskieren? Oberstleutnant Sarit Zehavi, die 15 Jahre lang im Geheimdienstkorps der Armee gedient hat und sich heute im Norden des Landes mit ihrem Forschungsinstitut Alma auf Beobachtungen und Analysen der Hisbollah spezialisiert, rechnet aufgrund ihrer Untersuchungen nicht damit.
Die Hisbollah, sagt sie, werde sich mit einem beschränkten Angriff auf Truppen der israelischen Armee begnügen und Zivilisten schonen. »Weil die Hisbollah eine massive Antwort erwartet, falls sie Zivilisten umbringt, wird sie nur Uniformierte angreifen.« Die Hisbollah sei derzeit nicht an einer Eskalation des Konflikts mit Israel interessiert, meint Zehavi, räumt dann aber ein: »Das ist unsere Logik – aber ist es auch die Logik der Hisbollah?«
WAFFENARSENAL Die Hisbollah ist ein Gegner, den man in Jerusalem ernst nimmt. Vor 14 Jahren hatten sich Israel und die Hisbollah während vier Wochen bekämpft. Im Laufe der Kampfhandlungen waren etwa 1200 Menschen umgekommen, darunter 121 israelische Soldaten und 44 Zivilisten.
Inzwischen ist die Hisbollah nicht nur die maßgebliche politische Kraft im Libanon. Sie verfügt über ein noch größeres und tödlicheres Waffenarsenal als im letzten Libanonkrieg. Zudem wird sie von Teheran massiv aufgerüstet. Aktiv ist die Hisbollah vor allem im Süden des Libanon, hat aber auch in Beirut im von Schiiten bewohnten Stadtteil Dahie eine starke militärische Präsenz.
Die Hisbollah verfüge im Süden des Libanon über mehr als 100.000 Raketen, die auf Israel und dessen Zentren gerichtet seien, auf Zivilisten und auf die zivile Infrastruktur, so Sarit Zehavi. In Beirut habe sie zudem 28 Orte entdeckt, die dem Abschuss, der Lagerung und der Produktion von Raketen dienen, zum Beispiel in der Nähe der iranischen Botschaft. Alle lägen in nichtmilitärischen Stadtteilen, in Privathäusern, Kliniken, Kirchen und Industrievierteln, aber auch in Schnellimbiss-Restaurants.
Libanon-Expertin Sarit Zehavi meint, die Hisbollah sei nicht an Eskalation interessiert.
Anders als in früheren Jahren bekennt sich die Hisbollah heute offen zu ihrer iranischen Identität. In Maroun al-Ras, einer Hisbollah-Hochburg an der Grenze zu Israel, weht eine iranische Fahne, und eine Statue des iranischen Top-Generals Qassem Soleimani, der im Januar durch einen US-Angriff getötet worden war, zeigt in Richtung Israel, als wollte er zu verstehen geben: »Wir erledigen euch!«
Aus Teheran erhält die Hisbollah derzeit freilich deutlich weniger Gelder als früher, weil auch der Iran, ähnlich wie der Libanon, unter einer Vielzahl von Krisen leidet. So stark steht Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah unter Stress, dass er sogar in Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einwilligte, den er sonst als »westliche Marionette und Handlanger Washingtons« abkanzelt. Die Gespräche sind inzwischen aber gescheitert, weil die Regierung in Beirut unfähig war, die vom IWF geforderten Reformen anzugehen, geschweige denn umzusetzen.
Die desolate Lage des Libanon bekommt auch die Hisbollah zu spüren. Der Wirtschaftsminister bezeichnete sein Land als »gescheiterten Staat«.
CHAOS Nach Angaben des libanesischen Ministeriums für soziale Angelegenheiten sowie der Weltbank hat mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Lebensmitteln. Covid-19-Lockdown-Maßnahmen, eine Inflation auf Rekordniveau sowie eine anhaltende Gesundheitskrise haben dazu geführt, dass die meisten Grundnahrungsmittel für die durchschnittliche libanesische Familie unerschwinglich geworden sind. So haben sich die Preise für Milch, Reis und Zucker verdreifacht. Innerhalb von zehn Monaten ist der Wert des libanesischen Pfunds um mehr als 80 Prozent gesunken.
Die Lage ist chaotisch. »Dem Land droht die Verelendung«, sagt ein libanesischer Politologe. Es werde zu einem Braindrain kommen, einer Abwanderung von Fachkräften, befürchtet der Beiruter Anwalt Fouad Debs, der Gesuche von Emigranten bearbeitet. Die meisten würden nach Kanada oder in die USA übersiedeln wollen. Europa als neue Heimat werde lediglich für zehn Prozent der Auswanderer attraktiv sein, schätzt Debs. Doch die Zahlen könnten auch höher sein. Falls die Europäer kein Geld überweisen, drohte kürzlich ein Parlamentarier der Hisbollah, Mohammad Raed, würde sein Land Europa mit syrischen Flüchtlingen »überschwemmen«, die derzeit im Libanon sind. Die Hisbollah beherrscht mit ihren Milizen Staat und Politik.
Obwohl seit Jahren keine Reformen umgesetzt wurden, hatten ausländische Regierungen – einschließlich der USA – ein Auge zugedrückt und trotzdem Geld überwiesen. Doch jetzt ist es mit der Geduld der Geberländer vorbei.
In der Not setzt die Hisbollah auf Hilfsgelder aus China. Laut Hisbollah-Chef Nasrallah sei die Volksrepublik bereit, mit einer von der Hisbollah geführten Regierung ins Geschäft zu kommen. Damit hätte Beirut eine Alternative zu den traditionellen Geberländern wie Saudi-Arabien oder Frankreich. Die neue Strategie hätte weitreichende politische Folgen in der Region. Und sie würde zudem den Versuch der Volksrepublik stärken, ihre Position im Nahen Osten auszubauen.