Slicha! Ein einziges hebräisches Wort steht symbolisch für den unerträglichen Schmerz, den die Angehörigen der getöteten Geiseln fühlen, sowie für die Verzweiflung und Wut, die in ihnen brennen, weil ihre Liebsten nicht aus Gaza befreit wurden. Slicha – es tut mir leid!
Gal Dickmann, Cousin von Carmel Gat, presst die Worte hervor, während er mit den Tränen kämpft. »Wir waren so kurz davor, so kurz … Slicha, Carmeli.« Sie habe auf der Liste für die erste Phase eines Deals gestanden. Doch es kam zu keinem Deal. Die Israelin wurde zusammen mit den fünf anderen Geiseln Hersh Goldberg-Polin, Almog Sarusi, Ori Danino sowie Eden Yerushalmi und Alexander Lobanov von den Henkern der Hamas kaltblütig ermordet.
Erst vor Kurzem hatte die Familie von Carmel Gat wohl ein Lebenszeichen von ihr erhalten.
Die Armee barg ihre Leichen in einem Tunnel im südlichen Gazastreifen. Autopsien ergaben, dass sie wenige Tage zuvor noch gelebt hatten und offensichtlich aus nächster Nähe erschossen wurden. Die Leichen wiesen keinerlei Zeichen von Unterernährung oder Verletzungen auf. Sie hätten ihre Geiselhaft also überleben können. »Doch stattdessen leben wir jetzt in dem tragischsten Albtraum, den sich niemals jemand so hätte vorstellen können.«
Vor wenigen Wochen ein Lebenszeichen
Dabei war Carmels Familie voller Hoffnung. Erst vor wenigen Wochen hätten sie von der Armee ein Lebenszeichen von ihr erhalten. »Wir dürfen nicht sagen, wie und was, aber wir bekamen es. Und trotzdem konnten wir Carmeli nicht retten.«
Die Beschäftigungstherapeutin stammte aus dem Kibbuz Be’eri und lebte in Tel Aviv. Sie war gerade zu Besuch bei ihrer Mutter Kinneret, die am 7. Oktober während des Massakers von den Hamas-Terroristen ermordet wurde. Überlebende Geiseln bezeichneten die 40-Jährige als Schutzengel, der ihnen während der schweren Zeit in Gaza Yoga und Meditation beigebracht habe, um so irgendwie durch die dunklen Tage zu kommen. »Carmel war Licht und Regenbogen, ihre Persönlichkeit hatte viele verschiedene Farben«, so ihr Cousin. Alle haben Carmel geliebt.
Alexander Lobanov, der als Barmanager auf dem Nova-Musikfestival arbeitete, durfte sein zweites Kind nie kennenlernen. Der jetzt fünf Monate alte Kai wurde geboren, als sich der Vater bereits in der Gewalt der Hamas befand. Alex und seine Frau Michal haben noch ein zweijähriges Kind: Tom. »Der schwerste Moment für mich war die Brit Mila. Alex fehlte mir so sehr. Er konnte sein Baby nicht im Arm halten und beruhigen. Das hat uns alle gebrochen.« Michal glaubte bis zum letzten Tag fest daran, dass ihr Mann aus der Hölle in Gaza zurückkehrt. »Ich habe ständig Fotos gemacht, damit er nichts verpasst.« Alex wird diese Bilder niemals sehen.
Zum Tanzen auf dem Nova-Rave
Der 27-jährige Almog Sarusi war ein lebhafter, positiver Mensch, der es liebte, im Jeep mit seiner Gitarre durch Israel zu reisen. Er war mit seiner großen Liebe, Shachar, zum Tanzen auf dem Nova-Rave. Als Shachar bei dem verheerenden Überfall der Hamas von Terroristen angeschossen wurde, blieb Almog an ihrer Seite und versuchte, ihr Leben zu retten, bis die Hamas ihn verschleppen sollte.
»Mein liebster Sohn, wie haben wir gehofft und gebetet, dich wiederzusehen«, weinte seine Mutter Nira Sarusi bei der Beerdigung in Raanana. »Dich lächeln zu sehen und zu umarmen. Doch du wurdest im Stich gelassen und auf dem Altar des Philadelphi-Korridors geopfert.« Seine Freundin Shachar wurde ebenfalls ermordet »und ist jetzt mit ihrem Almog vereint«.
Auch Ori Danino (25) hatte viele Träume. Er wollte seine Verlobte Liel heiraten und Elektrotechnik studieren. Doch er wurde auf dem Rückweg vom Nova-Musikfestival entführt, als er anderen bei der Flucht half. Seine Mutter Einav erzählte, dass ihr Sohn immer der Erste war, wenn es darum ging, anderen zu helfen. »Er war schon entkommen, kehrte aber noch einmal zurück, um seine drei Freunde zu retten.« Sie wurden alle gemeinsam gekidnappt. Zwei von ihnen sind mittlerweile in Freiheit.
Beten zu Gott
Fast elf Monate lang betete Oris Mutter vor dem Schlafengehen zu Gott: »Wie du ihn genommen hast – so gib ihn auch zurück.« Doch Ori kehrt nicht mehr zurück. Die 24-jährige Eden Yerushalmi verbrachte die Sommertage am liebsten am Strand, ging tanzen und machte eine Ausbildung zur Pilates-Trainerin. Während des Überfalls der Hamas rief sie verzweifelt die Polizei an und flehte: »Findet mich, okay?« Vier Stunden lang sprach sie mit ihren Schwestern May und Shani, die hörten, was sie bei ihrem Fluchtversuch durchmachte. Nun haben die Soldaten Eden gefunden – zu spät. Auf ihrem Sarg lag ein Schild mit der Aufschrift: »Slicha, Eden.«
Hersh Goldberg-Polin war erst 23 Jahre alt. Während des Massakers auf dem Rave wurde sein Arm verletzt und später im Gazastreifen amputiert, wie man in einem Hamas-Propagandavideo sah. Doch Hersh lebte! Seine klugen und besonnenen Eltern Jon Polin und Rachel Goldberg reisten unermüdlich um die Welt mit dem Ziel, ihren einzigen Sohn zu befreien. Sie trafen sich mehrmals mit US-Präsident Joe Biden, der nach der schrecklichen Nachricht sagte, er sei »am Boden zerstört«.
Geboren in Kalifornien, wanderte seine Familie nach Israel aus, als Hersh noch ein Kind war. Er setzte sich stets für Frieden ein und glaubte fest daran, dass Jerusalem, wo er lebte, »eine Stadt für alle Menschen« sei. Der junge Mann war ein passionierter Fußball- und Basketballfan von Hapoel Jerusalem und dem deutschen Verein Werder Bremen. »Ruhe in Frieden, Hersh. Wir werden dich nicht vergessen«, schrieben die Grün-Weißen.
»Vielleicht ist dein Tod der Stein, der die anderen Geiseln nach Hause bringt.«
Jon Polin
»330 Tage lang haben Mama und ich nach dem sprichwörtlichen Stein gesucht, der dich befreit«, sagte Hershs Vater bei der Beerdigung. »Vielleicht ist dein Tod der Stein, der die anderen Geiseln nach Hause bringt.« Für seine Mutter war es ein Trost, dass ihr Sohn im Kreise anderer Geiseln starb: »Die schönen sechs haben zusammen überlebt, die schönen sechs sind zusammen gestorben, und wir werden uns für immer an sie erinnern.«
Sie bat Hersh um Verzeihung, »wenn es etwas gab, was wir hätten tun können, um dich zu retten, und wir nicht daran gedacht haben. Wir haben es so sehr und so verzweifelt versucht – es tut mir leid«, sagte sie unter Tränen. Slicha!