Um den Hals trägt Aviel Gabay eine silberne Kette. Der Anhänger ist die Hälfte eines Vollmonds. Für ihn ein Symbol, dass seine andere Hälfte verloren ist – für immer. Es war die Kette seiner geliebten Schwester Shani. Sie wurde von Hamas-Terroristen auf dem Nova-Festival ermordet. Am israelischen Gedenktag für gefallene Soldaten und Opfer von Terror, Jom Hasikaron, erinnerten Brüder und Schwestern an ihre getöteten Angehörigen und sprachen über den unerträglichen Schmerz des Verlusts.
Wochenlang hatte Shanis Familie geglaubt, sie sei in den Gazastreifen entführt worden, und kämpfte für ihre Freilassung. Am Platz der Geiseln in Tel Aviv stand ein Auto der Familie, das mit Fotos der jungen, hübschen Frau zugeklebt war. »Es gab keine Leiche, keine Augenzeugenberichte. Wo also sonst sollte meine Schwester sein?«, fragt ihr Bruder. Eines Tages jedoch hätten Vertreter von Polizei und Armee vor der Tür gestanden. Damit war das Ende der Hoffnung besiegelt: Shani war tot.
DNA an der Kette
Sie war zusammen mit einer anderen Frau begraben worden, weil beide Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren. 20 Menschen hatten beim Angriff auf das Festival versucht, den Häschern der Hamas zu entkommen und sich in einen Krankenwagen gerettet. Doch dann schossen die Terroristen Panzerabwehrraketen auf das Fahrzeug. Alle Menschen darin starben. Nur die DNA an der Kette von Shani klärte das grausame Geschehen letztendlich auf. Als sie schließlich in ihrem eigenen Grab beerdigt wurde, seien Tausende gekommen, so Aviel. »Alle, die Shani gekannt und geliebt haben, nahmen von ihr Abschied.«
Die 26-Jährige hatte auf dem Festival gearbeitet. Musik und Tanzen waren ihre Leidenschaft, neben ihrem Hund Alpha, den sie »heiß und innig« liebte. »Wir waren oft zusammen in Klubs zum Feiern. Unser Lieblingslied war ›Hey Brother‹ von Avicii«, erinnert sich Aviel und berührt seine Halskette. »Bei der Strophe ›Hey brother, hey sister‹ sind wir immer aufeinander zugelaufen und haben uns umarmt. Egal, wo wir gerade waren. So werde ich meine Shani in Erinnerung behalten.«
Einziger Bruder
Auch Jenny Sividia war auf dem Nova-Festival. Sie hat überlebt, ihr Bruder Shlomi nicht. Er und seine Freundin Lilia Gurevich-Vaslikovsky wurden ermordet. »Die Polizei riet uns, die Leichen nicht anzuschauen. Es sei zu schrecklich.« Seit dem sogenannten Schwarzen Schabbat sei für sie »jeden Tag Jom Hasikaron«, sagt Jenny.
Shlomi war Softwareingenieur und hinterlässt zwei kleine Söhne. »Jetzt müssen wir seinen Kindern aus der Erinnerung erzählen, was für einen wundervollen Vater sie hatten. Wir reden über Shlomi, zeigen ihnen Fotos. Doch das bringt ihren Aba nicht zurück.« Der 38-Jährige war Jennys einziger Bruder. »Mir fehlt es so sehr, ihn anzurufen, seine Stimme hören zu können, mich über sein Lachen zu freuen und einfach zu wissen, dass er existiert.« Sie habe große Angst vor dem Tag, an dem ihre Eltern nicht mehr da sein werden. »Dann bin ich ganz allein auf der Welt.«
»Für mich bedeutet dieser Tag jetzt, dass Menschen sterben, damit ich in meinem Land frei leben kann.«
Jenny Sividia
Monatelang habe sie nicht an sein Grab gehen können. Es sei zu schmerzhaft gewesen. Das erste Mal ging sie am Unabhängigkeitstag. »Das musste ich aus Respekt tun. Denn für mich bedeutet dieser Tag jetzt, dass Menschen sterben, damit ich frei in meinem Land leben kann.«
»Er konnte alles, ich nichts«
Ofir Swisa hat seinen Bruder Dolev (34) und seine Schwägerin Odaya (33) verloren. Die beiden wurden bei dem Versuch, aus Sderot zu flüchten, in ihrem Auto von Hamas-Terroristen ermordet. Vor den Augen ihrer beiden Töchter Romi (6) und Lia (3). Der drusische Polizist Amer-Odeh Abu Sabila (25) entdeckte die völlig verängstigten Mädchen und brachte sie in Sicherheit. Bevor auch er getötet wurde.
»Mein Bruder Dolev konnte alles, und ich kann nichts«, sagt Ofir Swisa. »Er schrieb Musik, die berühmte DJs wie Skazy oder Alon De Loco benutzen«, sagt er mit Stolz. »Und er war ein guter Vater!«
Die ganze Familie vermisse Dolev und Odaya jede Minute. Vor allem die beiden kleinen Mädchen. Sie seien schwer traumatisiert, würden sich kaum nach draußen wagen. »Es ist eine sehr schwierige Situation für uns alle«, so der Bruder. »Meine Mutter weint jeden Tag. Oft wissen wir gar nicht, wie es weitergehen soll.«
»Sie sind Helden«
Im Gesicht von Nabih Amer spiegelt sich eine Mischung aus Freude und Verzweiflung, wenn er über seinen jüngeren Bruder Jawad spricht. Freude, »diesen wundervollen Bruder gehabt zu haben, und unendliche Trauer, weil er nicht mehr da ist«. Der 23-Jährige aus dem drusischen Dorf Khorfeish war Soldat in der israelischen Armee und fiel im Kampf gegen Hisbollah-Terroristen, die am 9. Oktober über die libanesische Grenze kamen. »Mein Bruder hat zusammen mit zwei jüdischen Kameraden sein Leben gegeben, um uns zu beschützen. Sie sind Helden. Vielleicht wird uns das als Nation zusammenhalten«, hofft Nabih.
Doch statt einen Helden als Bruder hätte er lieber einen, der am Leben ist. Jawad sei seit vier Jahren Soldat gewesen. In seiner Freizeit war er außerdem Crossfit-Trainer und hat Eliteeinheiten geholfen, in Form zu bleiben. »Er war ungewöhnlich begabt und außergewöhnlich beliebt.«
»Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich ihn nicht mehr sehen werde, dass er nicht mehr in meinem Leben ist. Wir haben alles zusammen gemacht, Shows angesehen, sind durch die Welt gereist. Ich habe ihn oft von seiner Armeebasis abgeholt, und sofort, wenn er ins Auto stieg, lächelte er.« Tränen laufen über das Gesicht des verlassenen Bruders. »Er war mein bester Freund.« Während Nabih erzählt, steht ein lebensgroßes Foto von Jawad neben seinem Stuhl. »Ich würde am liebsten ständig über ihn sprechen – damit er mich nicht für immer verlässt.«