Sonntag, 16 Uhr, Gaza-Stadt: Die Menge wird von Minute zu Minute größer. Immer mehr Terroristen, vermummt und mit Gewehren im Anschlag, füllen den Platz. Dazu kommen Hunderte meist junge Männer, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollen. Plötzlich bahnen sich weiße Fahrzeuge den Weg durch die Massen. Die Menschen drängeln sich immer näher heran, klettern sogar auf die Autodächer. Durch das Fenster eines Wagens kann man auf dem Rücksitz die Silhouette einer Frau erahnen. Es ist die junge Israelin Romi Gonen. Völlig verängstigt blickt sie durch die Scheibe. Seit 471 Tagen ist sie Geisel der Hamas.
Zur selben Zeit hält ganz Israel den Atem an und starrt auf Bildschirme, auf denen die Bilder aus Gaza laufen. Die Umsetzung des Geiseldeals im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens beginnt. Romi Gonen (24), Doron Steinbrecher (31) und Emily Damari (28) sollen von der Hamas an das Rote Kreuz übergeben werden. Doch noch sitzen sie im Auto der Hamas. Die Sekunden werden zu Minuten. Mehr als eine Stunde bewegt sich nichts.
Dann filmt eine Kamera ins Auto. Plötzlich geht die Tür auf, und die drei jungen Frauen hasten von dem Wagen in einen Jeep des Roten Kreuzes, der direkt gegenüber geparkt ist. »Sie stehen auf ihren Beinen, sie laufen!«, rufen die Menschen in Israel bei diesem Anblick spontan. Aufatmen …
»Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut«
Der Sonntag war ein Tag der maximalen Anspannung. Erst gegen zehn Uhr morgens hatte die Hamas die Namen der freizulassenden Geiseln veröffentlicht. Im Vorfeld hatte es keinerlei Angaben zu ihrem Gesundheitszustand gegeben. Bekannt war nur, dass zwei von ihnen während des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 in südlichen Gemeinden Israels von Terroristen verletzt worden waren, Romi am Arm, Emily wurde in die Hand geschossen, und sie wurde am Bein verwundet. In einer ersten Nachricht, die das Rote Kreuz an Israel durchgab, hieß es: »Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut.« Emily, Romi und Doron fuhren in die Freiheit!
Nach dieser Botschaft gibt es kein Halten mehr in Israel. Jubel bricht aus, Tränen der Freude fließen bei den Familien, auf dem Platz der Geiseln und im ganzen Land. »Sie sind frei!«, rufen die Menschen und fallen sich in die Arme, um dann zu skandieren: »Kulam – achschaw« (Alle – jetzt). Länger als ein Jahr, mehr als 15 Monate, genau 471 Tage lang haben die Angehörigen hier zusammen mit Unterstützern um das Leben ihrer Liebsten gekämpft.
Etwa eine Stunde später schließen drei überglückliche Mütter ihre Töchter in einer Militäreinrichtung in die Arme. Eigentlich hätten sie in einem Krankenhaus im Zentrum des Landes warten sollen, doch Meirav Leshem-Gonen, Simona Steinbrecher und Mandy Damari insistierten: »Wir haben sie geboren, wir wollen unsere Töchter sofort sehen.«
Romi, sichtlich aufgewühlt, geht an der Hand einer Soldatin durch die Räume und ruft: »Ejfo Ima scheli?« (Wo ist meine Mutter?), um ihr Sekunden später in die Arme zu fallen und hemmungslos zu schluchzen. Kurz darauf spricht die 24-Jährige am Telefon mit ihrer restlichen Familie und ruft mit erhobenem Zeigefinger, so, als wolle sie die Bedeutung ihrer Worte unterstreichen: »Papa, ich bin lebend zurückgekommen. Lebend!«
»Bis alle Geiseln frei sind«
In Kfar Vradim, ihrem Heimatort im Norden des Landes, hat sich am Nachmittag die gesamte Familie versammelt und verfolgt die Geschehnisse live im Fernsehen. Sharona, eine Angehörige, sagt: »Wir sind überglücklich, dass wir endlich diese Bilder sehen.« Vorbei aber sei der Kampf noch nicht, macht sie klar, »bis alle Geiseln frei sind«.
Das fordert auch Hagai Angrest, Vater des entführten Soldaten Matan Angrest: »Wir sind die Art von Menschen, die ihren vollen Beitrag zum Land leisten, und erwarten, das Mindestmaß dafür zurückzubekommen – Matan gesund und munter nach Hause zu bringen, so wie wir ihn der Armee übergeben haben.« Das betonen auch die anderen Familien von Geiseln.
Während sie und Unterstützer Fahnen schwenken und immer wieder in Jubel ausbrechen, erinnern sie gleichzeitig daran, dass noch 94 Menschen in der Gefangenschaft der Hamas feststecken. Viele der Angehörigen haben große Angst, dass nicht alle Phasen des Abkommens umgesetzt werden und ihre Liebsten für immer in Gaza verschollen bleiben.
»Papa, ich bin lebend zurückgekommen. Lebend!«
In den Tagen vor dem Waffenstillstand hatten die Angehörigen aller zehn israelischen Frauen, die noch in Gaza sind, Taschen mit ihren Lieblingsgegenständen vorbereitet. Dann, am Sonntag, liegen auf den Sitzen des Helikopters, der sie aus dem Süden in das Sheba-Krankenhaus bringen soll, bunte Kuscheldecken neben den Taschen. Auf dem Weg dorthin meldet sich Präsident Isaac Herzog: »Romi, Emily und Doron – so geliebt und vermisst – eine ganze Nation freut sich über eure Rückkehr. Wir senden euch und euren Familien eine große Umarmung. Dies ist ein Tag der Freude und des Trostes und der Beginn einer herausfordernden Reise der gemeinsamen Genesung und Heilung
Im Krankenhaus angekommen, werden die jungen Frauen von ihren engsten Familienmitgliedern in Empfang genommen. Freunde von Doron besuchen sie am Montag und erzählen anschließend: »Die Aufregung war überwältigend. Ehrlich gesagt, war unsere erste Reaktion Freudenschreie«, so Meitar Yakobi. »Dann kamen Tränen und ein emotionaler Zusammenbruch, als uns klar wurde, dass sie endlich da ist. 471 Tage lang hofften, beteten und warteten wir. Es war ein Moment, den wir nie vergessen werden.«
Ihre Freunde kommentieren auch Dorons brünettes Haar, normalerweise ist es blond: »Es steht ihr viel besser und lässt ihre blauen Augen richtig hervorstechen. Aber sie ist in jeder Hinsicht perfekt. Wir nehmen sie in jeder Farbe.«
»Von ganzem Herzen«
Am selben Abend geben die Mütter und andere Angehörige eine Pressekonferenz im Krankenhaus und bedanken sich »von ganzem Herzen« bei allen, die zur Freilassung beigetragen haben, und teilen, was ihre Töchter bereits erzählt haben: Sie seien nicht allein festgehalten worden, aber ständig an anderen Orten, zeitweise in unterirdischen Tunneln mit wenig oder ganz ohne Tageslicht.
Gelegentlich hätten sie Zugang zu Fernsehen und Radio gehabt, wodurch sie wussten, dass ihre Familien das Hamas-Massaker vom 7. Oktober überlebt hatten. Allerdings erfuhren sie dabei auch, dass viele ihrer Freunde von Terroristen getötet oder ebenfalls verschleppt wurden. »Gaya Khalifa war Romis beste Freundin. Sie wurde neben meiner Tochter ermordet, als sie versuchten, in einem Auto zu fliehen«, sagt Meirav Leshem Gonen. »Und sie war ihr Schutzengel während der ganzen Zeit in Gaza.«
»Ich dachte nicht, dass ich nach Hause zurückkehren würde. Ich war sicher, dass ich dort sterben würde«, habe eine der Frauen gestanden. Sie hätten erst am Morgen ihrer Übergabe von ihrer bevorstehenden Freilassung erfahren. »Und hatten dabei wegen der feindseligen Menschenmenge in Gaza schreckliche Angst.« Später veröffentlichte die Terrororganisation Aufnahmen, wie die drei Zivilistinnen auf der Rückbank des Autos lächeln müssen, als sie Tüten mit Fotos ihrer Geiselhaft überreicht bekommen, um sie »an ihre Zeit in Gaza zu erinnern«. Dabei tragen sie Palästina-Bänder um den Hals. In Israel wird diese grausame und zynische Aktion als Psychoterror bezeichnet.
»Du weißt nicht, was deine Tochter alles für mich getan hat«
Emily berichtet, dass sie längere Zeit mit Romi zusammen war, die als ausgebildete Sanitäterin ihre Wunden behandelte und lebenswichtige Pflege leistete. Romi wiederum sagte kurz nach ihrer Befreiung zu Mandy Damari: »Du weißt nicht, was deine Tochter alles für mich getan hat.«
Die drei Frauen hätten während ihrer Gefangenschaft Arabisch gelernt und füreinander gekocht. Trotz zeitweiser Versorgung mit Medikamenten durch die Hamas habe eine der Geiseln einen medizinischen Eingriff ohne Betäubung über sich ergehen lassen müssen.
»Ich bin zu meinem Leben, das ich so liebe, zurückgekehrt«, postete Emily am ersten Abend in Freiheit auf Instagram und stellte ein blaues Herz daneben. Sie habe zwar erst einen winzigen Teil der Bemühungen, sie freizubekommen, gesehen, doch ihr Herz sei schon dabei vor Aufregung explodiert. »Danke, danke, danke!«, schrieb sie weiter. »Ich bin der glücklichste Mensch der Welt – einfach nur, weil ich am Leben bin.«
Das Abkommen im Überblick
Phase 1
Während einer Waffenruhe von 42 Tagen werden 33 der 98 israelischen Geiseln schrittweise freigelassen. Im Gegenzug entlässt Israel 1904 inhaftierte Palästinenser. Nachdem am ersten Tag der Waffenruhe drei israelische Geiseln zu ihren Familien zurückkehren konnten, sollen am siebten Tag, also am Samstag, vier weitere folgen. Während der ersten sechs Wochen sollen wöchentlich Geiseln freigelassen werden. Israel wird für jede freigelassene zivile Geisel 30 inhaftierte palästinensische Frauen, Kinder und ältere Menschen gehen lassen. Für jede freigelassene israelische Soldatin kommen 50 palästinensische Häftlinge auf freien Fuß, darunter Dutzende, die wegen besonders schwerer Verbrechen in Haft sind. Im Gegenzug für die Rückgabe von Leichen an Israel werden alle palästinensischen Frauen und Kinder, die Israel seit der Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 und des daraus resultierenden Krieges in Gaza festgehalten hat, freigelassen. Die Verhandlungen über die zweite Phase des Abkommens sollen am 16. Tag der ersten Phase beginnen.
Phase 2
Wenn Israel und die Hamas eine weitere Vereinbarung treffen, sollen alle verbleibenden Geiseln freigelassen werden. Im Gegenzug soll sich Israel vollständig aus Gaza zurückziehen.
Phase 3
In der finalen Phase soll die Hamas die verbliebenen Leichname von Geiseln übergeben. Im Gegenzug wird ein drei- bis fünfjähriger Wiederaufbauplan für Gaza unter internationaler Aufsicht umgesetzt. Danach stünden Verhandlungen über eine mögliche Regierungsbildung in Gaza an.
Biografien der drei Frauen
Emily Damari
Die letzte Nachricht von Emily Damari kam am 7. Oktober 2023 um zehn Uhr morgens. Sie schrieb an Familienangehörige, dass Terroristen in ihrem Kibbuz Kfar Aza seien und in der Nähe ihrer Wohnung um sich schießen würden. Die 28-Jährige ist britische und israelische Staatsangehörige. Damari wuchs im Südosten Londons auf und hatte Alija gemacht. Die Terroristen hätten ihr in die Hand geschossen, sie wurde durch Granatsplitter im Bein verletzt »und dann mit verbundenen Augen auf den Rücksitz ihres eigenen Autos gedrängt und nach Gaza gefahren«, so ihre Mutter Mandy Damari. Die Mörder haben auch ihren Hund Choocha erschossen. »Emily befindet sich in einem Tunnel im Gazastreifen. Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter wäre verletzt, vielleicht psychisch und sexuell misshandelt«, sagte ihre Mutter bei einem Besuch im Kibbuz. Doch sie wolle kein Mitleid, weder für ihre Tochter noch für sich selbst. »Wir sind Kämpferinnen, und wir kämpfen zusammen um ihr Leben.«
Romi Gonen
Romi Gonen hatte das Nova-Musikfestival besucht, um mit Freunden zu tanzen. Sie sei ein fröhlicher Mensch, lache immerzu, sagt Yarden Gonen über ihre jüngere Schwester. Bis zu dem »Schwarzen Schabbat«. Zwei ihrer besten Freunde wurden im Auto neben ihr erschossen, als sie versuchten, vor den mordenden Horden der Hamas zu fliehen. Romi überlebte das Massaker. Im August wurde sie in Gaza 24 Jahre alt.
Romi ist das mittlere Kind von fünf Geschwistern. Sie wuchs im Norden Israels auf, inmitten von arabischen Ortschaften. Die Koexistenz zwischen Juden und Palästinensern liegt ihr am Herzen. Sie liebt es zu reisen, andere Kulturen kennenzulernen und zu tanzen. »Wo auch immer Romi war, lernte sie neue Leute kennen, denn sie hat dieses ansteckende Lachen, ist witzig, und man mag sie einfach«, erzählt ihre ältere Schwester. »Aber sie hat auch ein kämpferisches Naturell und tut alles, um Gerechtigkeit für sich selbst und andere zu erreichen. Romi ist nicht nur ein Gesicht auf einem Vermissten-Poster, sie ist meine geliebte kleine Schwester.«
Doron Steinbrecher
Die 31-jährige Doron Steinbrecher stammt aus dem Kibbuz Kfar Aza und ist eine passionierte Tierarzthelferin, die Vierbeiner über alles liebt. Sie wurde von Terroristen aus ihrem Haus im sogenannten Quartier der jungen Generation von der Hamas gekidnappt. »Den ganzen Morgen des verfluchten Schabbats über hatten wir Kontakt«, erinnert sich ihre Schwester Amit Ashkenazi. »Doron hatte große Angst.« Schließlich schickte sie eine Sprachnachricht: »Sie sind da, sie haben mich.« Eine Woche später erhielt die Familie die Nachricht, dass Doron Geisel sei.
Nach 111 Tagen veröffentlichte die Hamas ein Propagandavideo. Es war das erste Lebenszeichen der jungen Frau. Ihre Mutter Simona Steinbrecher sagte, es sei »ermutigend, dass wir sie endlich gesehen haben«, doch gleichzeitig sei sie außer sich vor Angst. »Schauen Sie sich ihr Gesicht an, ihre eingefallenen Augen, sie sieht blass aus.« Doch ihre Angehörigen weigerten sich, dass Doron »nur als Geisel« gesehen werde. »Doron ist eine Tochter, Schwester und ›Dodo‹ für ihre fünf Neffen und Freunde.«