Sie gingen Hand in Hand. In dieselbe Richtung auf demselben Bürgersteig. Einige Tage zuvor wären sie dafür wohl beschimpft, vielleicht sogar geschlagen worden. An diesem Abend aber lächelte man ihnen zu, rief ermunternde Parolen. Die Eltern von Naama Margolis waren auf dem Weg zur Demonstration in Beit Schemesch.
spiessrutenlauf In den vergangenen Wochen war die Stadt bei Jerusalem zum unfreiwilligen Symbol des Streits in der israelischen Gesellschaft geworden. Die Fernsehbilder der kleinen Naama, die sich tagein, tagaus ihren Weg durch einen Pulk aggressiver, schreiender religiöser Extremisten bahnen musste, schockierten das Land. Als das Mädchen vor einigen Tagen bespuckt wurde, weil es nach Meinung der Ultrafrommen nicht angemessen gekleidet war, lief das Fass über. »Es kann nicht sein, dass Kinder auf diese Weise bedrängt werden«, sagte Staatspräsident Schimon Peres sichtlich erzürnt und rief alle Israelis auf, auf die Straßen zu gehen. Gemeinsam mit Naamas Eltern demonstrierten rund 10.000 Israelis.
Fanatiker bestehen in der Stadt zunehmend darauf, dass Frauen und Männer an unterschiedlichen Supermarktkassen warten, stellen Schilder für getrennte Straßenseiten auf. Frauen, die Opfer von Beleidigungen und Gewalt geworden waren, sprachen auf der Kundgebung von ihren Erfahrungen, Politiker mahnten ein Ende der Diskriminierung an.
Säkulare Demonstranten standen Seite an Seite mit religiösen und sogar ultraorthodoxen Kundgebungsteilnehmern, die zeigen wollten, dass nicht alle Haredim der Bevölkerung ihren Willen aufdrängen wollen. Schilder mit Aufschriften wie »Segregation ist eine rote Linie« oder »Israel darf nicht werden wie Iran« wurden im nächtlichen Himmel geschwenkt.
Eine ultraorthodoxe Familie mit fünf Kindern im Schlepptau hielt sich etwas abseits am Straßenrand auf. Sie hatte kein Banner dabei, machte jedoch unmissverständlich klar, dass auch sie etwas gegen diese Art von Fanatismus hat. »Wir wollen keinen Krieg mit den Säkularen und sie zu nichts zwingen«, so die Mutter: »Diese Elemente zerstören auch den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft.«
nazivergleiche Die Menschen, die am Samstag voriger Woche zu einer Gegendemonstration in den Jerusalemer Stadtteil Geula kamen, sehen das anders. In dem strengreligiösen Viertel gingen rund 1.500 ultraorthodoxe Männer gegen eine »Verfolgung von Haredim« auf die Straße.
»Der Staat hat kein Recht, sich in unsere Belange einzumischen«, riefen sie. Einige hatten sich einen gelben Stern ans Revers geheftet, andere gestreifte KZ-Häftlingskleidung übergezogen. Sogar Kinder trugen Sterne mit dem Wort »Jude« an ihrer Kleidung »Wir fühlen uns genauso wie Juden damals in Nazi-Deutschland«, war der Tenor. Verbände von Holocaustüberlebenden und Politiker kritisierten diesen »unangebrachten Vergleich« aufs Schärfste.
In den vergangenen Wochen zeigt sich die Kluft zwischen radikalen Elementen innerhalb der ultraorthodoxen Gemeindschaft und der großen Mehrheit in Israel in immer gleißenderem Licht. Ob es das Verschwinden von weiblichen Reizen aus der Werbung in der Hauptstadt ist, das Fehlen von Frauen auf Plakaten der nationalen Organspenderdatei oder die »koscheren« Buslinien. Der Unmut in der Bevölkerung wächst mit jedem Tag.
Zehn bis 20 Prozent aller jüdischen Israelis gelten als ultraorthodox. Die Angst vor der wachsenden Bedrohung durch die moderne Umgebung – Internet, Globalisierung, die säkulare Arbeitswelt – lässt die fanatischen Kräfte innerhalb der Gruppe wachsen, sagt Tamar El Or, Professorin für Sozialwissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
»Sie wollen mit aller Macht an den eingefahrenen Strukturen festhalten und denken sich dafür immer extremere Maßnahmen aus.« Schleichend versuchten diese Gruppierungen, ihr Weltbild in alle Bereiche des öffentlichen Lebens auszuweiten.
geschlechtertrennung Wie etwa beim Busfahren. Die junge Soldatin Doron Matalon fährt regelmäßig in einem geschlechtergetrennten Bus durch die Jerusalemer Innenstadt zu ihrer Armeebasis. Auch vorigen Donnerstag stieg sie ein. In ihrer olivgrünen Uniform blieb sie dieses Mal allerdings im vorderen Teil des Busses stehen. »Weil es hinten überfüllt und stickig ist, aber auch aus Prinzip«, wie sie später erklärte.
Ein Affront in den Augen von Schmuel Fuchs. Der 45-jährige Ultraorthodoxe forderte Matalon in grobem Ton auf, in den hinteren Teil durchzurücken. Als die Soldatin sich weigerte, begann er, sie als »Hure und Schickse« zu beschimpfen. Andere haredische Männer stimmten in die Anpöbelei ein. Fuchs, Vater von zwölf Kindern, wurde festgenommen. Im Polizeigewahrsam gab er zu, Matalon als Prostituierte bezeichnet zu haben. »Und sie hat es verdient« fügte er hinzu. Die Soldatin sagte zu dem Zwischenfall nur: »Das war doch nichts. Mir ist schon Schlimmeres passiert. Es gab Fälle, wo man mich aus dem Bus herausgedrängt hat – weil ich eine Frau bin.«
Um ein »Zeichen im neuen Jahr zu setzen«, fuhren am Sonntag um die hundert Aktivisten in den getrennten Buslinien mit. Frauen blieben demonstrativ zwischen Männern stehen, säkulare Männer setzten sich nach hinten zu den religiösen Frauen. Die Aktion verlief weitgehend ohne Zwischenfälle.
David Schechter war bei der Demo in Beit Schemesch dabei und fuhr in einem der Busse mit. Er findet, jetzt sei die Zeit, ein Zeichen zu setzen. »Wir sind heute bereits bei bespuckten Kindern angelangt. Das sind Taliban-Methoden. Wo soll das enden?«, fragt er mit Wut in der Stimme. Schechter will auch in Zukunft gegen Ausgrenzung vorgehen. »Wir dürfen es nicht hinnehmen und diesen Irrsinn nicht zum Status Quo in unserem Land werden lassen. Ich hoffe, dass alle Leute mit gesundem Menschenverstand aufwachen und diesem Spuk ein für alle Mal ein Ende bereiten.«