Frau Havron, der Iran hat Israel mit Raketen angegriffen. Wie gehen Sie und Ihre Patienten mit dieser akuten Gefahr um?
Der Stress war im vergangenen Jahr sowieso schon sehr hoch, aber diese Nachrichten vergrößern ihn natürlich noch. Viele Menschen haben jetzt noch mehr Angst als in den letzten Monaten schon, und manche ändern ihre Pläne. Die Menschen in Israel sind es gewohnt, sich ständig anzupassen. Aber es ist psychologisch gesehen eine Menge Arbeit. Man arbeitet immerzu daran, sich an die neue Situation anzupassen.
Das erfordert viel Energie.
Ja, es braucht Energie und es macht unsere geistige Gesundheit anfälliger.
Wie können Sie Ihre Patienten dabei unterstützen?
Ich denke, zuallererst durch Beständigkeit, also die Tatsache, dass ich nicht weggehe, keinen großen Urlaub mache. Die Patienten wissen, dass sie sich darauf verlassen können, dass ich da bin. Das ist das Wichtigste. Darüber hinaus gibt es viele Bewältigungsmechanismen: zum Beispiel Humor. Ja, wir lachen in meiner Praxis manchmal über diese unglaubliche Situation. Und ich versuche meinen Patienten das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind. Es hilft zu verstehen, dass es jetzt allen so geht. Wir sind Teil einer Gruppe. Das hat etwas Erleichterndes, glaube ich.
Wie wirkt sich die Gefahr jetzt so unmittelbar vor Rosh Haschana auf Ihre Patienten aus?
Die Ungewissheit ist für viele sehr belastend. Werde ich morgen Rosch Haschana feiern oder nicht? Es tut uns Menschen nicht gut, wenn wir aufhören zu planen und zu hoffen. Das ist sehr schlecht. Wir müssen auf etwas warten. Ja, wir müssen auf Rosch Haschana warten, wir müssen auf Weihnachten warten. Wir müssen auf irgendetwas warten. Auf einen Feiertag zum Beispiel. Das ist Teil des Wohlbefindens des Menschen. Man hat während der Covid-Pandemie sehen können, dass viele Menschen sich keine Hoffnungen mehr gemacht haben und deshalb niedergeschlagen, ja deprimiert waren. Viele spüren in solchen Situationen stärker Stimmungsschwankungen.
Und was macht das mit einem Therapeuten, einer Therapeutin?
Das sind sehr schwierige Zeiten für uns, denn wir sind ja auch Menschen. Ich behandle Personen, die in derselben Situation leben wie ich. Die Raketen fallen ja, wenn sie das denn tun, auf uns alle. Wir alle sind in Gefahr, wir alle sind gestresst. Doch wir Therapeuten müssen einen Weg finden, um dennoch für andere da zu sein, durchzuhalten. Das ist schwierig – aber es hilft auch sehr, wenn man eine Pflicht hat. Ja, dann ist es einfacher, denke ich.
Wie meinen Sie das?
Man erzählt, zum Dalai Lama sei einmal eine Frau gekommen und habe geklagt, dass sie sehr verletzt sei: Ihr Mann sei gestorben, und ihr Sohn sei gestorben, und sie sehe keinen Grund mehr zu leben. Der Dalai Lama sagte zu ihr, sie solle sich um sich selbst kümmern und jemanden suchen, dem sie helfen kann. Das war sein Satz: »Finde jemanden, dem du dienen kannst.« Ich glaube also, dass die Menschen, die sich in irgendeiner Weise um andere kümmern, jetzt in einer besseren Verfassung sind.
Das empfehlen Sie also Ihren Patienten in dieser besonderen Situation.
Ja, ich empfehle ihnen drei Dinge: Bleiben Sie so weit wie möglich in Ihrem normalen Alltag, in Ihren Routinen! Finden Sie jemanden, dem Sie helfen, um den Sie sich kümmern können. Das können ganz kleine Dinge sein: Schauen Sie nach Ihren alten Nachbarn. Klopfen Sie einfach an die Tür des Nachbarn und fragen Sie, wie es ihm geht. Sie werden sich besser fühlen! Und drittens: Behalten Sie so viel wie möglich von Ihrem Sinn für Humor! Trotz allem.
Mit der Jerusalemer Psychotherapeutin sprach Tobias Kühn.