So zuverlässig, wie am Ende der Nachrichten die Wettervorhersage kommt, schalten die Fernseh- und Radiosender dieser Tage nach Sderot. In der Kleinstadt in Sichtweite des Gazastreifens gibt es »Niederschlag«. Doch nicht Regenwolken trüben den Himmel über dem »Gaza-Umschlag«, wie im Hebräischen die Kibbuzim, Kleinstädte sowie die Sapir-Hochschule in dem zwölf Kilometer breiten Gürtel um den palästinensischen Küstenstreifen genannt werden. Das Gebiet befindet sich in Reichweite der Kassamraketen aus dem Gazastreifen. Die Sprengköpfe der primitiven Raketen sind mit Metallstücken aus Kugellagern gefüllt, um deren tödliche Wirkung zu erhöhen.
Nur zwölf Sekunden bleiben den Menschen hier, um einen sicheren Unterschlupf zu finden, wenn es aus Lautsprechern »Zeva Adom« (Roter Alarm) scheppert. An jeder Bushaltestelle steht ein Luftschutzbunker aus Stahlbeton. In vielen Häusern gibt es einen Sicherheitsraum mit dicken Mauern, aber ältere Hauser bieten keinen Schutz gegen direkte Treffer oder Splitter.
Erst Ende vergangenen Jahres war Sderot ans Schienennetz angeschlossen worden. Nun gibt es einmal pro Stunde eine direkte Zugverbindung nach Tel Aviv. Das Bahnhofsgebäude ist vorsichtshalber raketensicher errichtet worden. Ebenso sind die Schulen in der Kleinstadt mit mächtigen Betondächern überbaut, um die Kinder während der Unterrichtszeit zu schützen.
Hitze Doch am Montag hätten eigentlich die Sommerferien beginnen sollen. Was tun? In der Region dürfen Sommerkurse und Ferienlager nur in geschlossenen, also halbwegs sicheren Räumen abgehalten werden. Die Stadtverwaltung hat daher beschlossen, das Schuljahr noch bis zum 24. Juli zu verlängern, damit die Schulkinder sich tagsüber wenigstens in gesicherten Gebäuden aufhalten und nicht in den Straßen herumwandern, wo sie jederzeit von Kassamraketen getroffen werden könnten.
Das städtische Schwimmbad ist fast leer, obgleich 40 Grad Hitze nach einem erfrischenden Bad rufen. Eine junge Frau im Bikini holt zwei Kinder aus dem Wasser und rennt zum Schutzbunker neben dem Schwimmbecken. »Was ist los?« Die junge Frau sagt nur »Zeva Adom«.
Michael Ravivo will an diesem Abend heiraten. Mit seiner Braut sitzt er am Küchentisch und telefoniert. Jeden Hochzeitsgast versucht er persönlich zu überzeugen, nach Sderot zu kommen, obgleich es seit der Entführung der drei Jugendlichen vor drei Wochen mehr als 50 Raketen gehagelt hat, davon 17 allein am vergangenen Dienstag.
Neuanfang Am Wochenende davor gab es ein regelrechtes Feuerwerk in Sderot. Im Industriegebiet waren gleich zwei Raketen in der Denber-Fabrik für feuerhemmende Farbstoffe eingeschlagen. Mit lodernden Flammen und der Explosion eines Terpentintanks wurde sie völlig zerstört. Drei Menschen erlitten leichte Verletzungen, der Schaden geht in die Millionen. Aber der Besitzer, Baruch Kogan, dem schon einmal eine Fabrik in Ofakim durch Brandstiftung zerstört worden ist, will nicht aufgeben und in Sderot einen Neuanfang wagen – auch für seine 30 Angestellten.
Alon Davidi, der Bürgermeister der Kleinstadt, hatte nach den Einschlägen vom Wochenende verkündet: »Die Bürger von Sderot lassen sich durch die verabscheuungswürdigen, feigen Aktionen der Terroristen nicht entmutigen.« Die meisten aus dem Gazastreifen abgeschossenen Raketen landen auf offenen Feldern, ohne Schaden anzurichten. Trotzdem wird jeder Einschlag in Israel gemeldet. Die Entwarnung kommt, sowie Polizei und Rettungsdienste sicher sind, dass niemand getroffen wurde. Einige der nicht-lenkbaren Raketen explodieren bereits im Gazastreifen und töten Menschen dort.
beschlüsse Benjamin Netanjahu will zwar die Hamas bestrafen. Doch der Premierminister kann nicht selbstherrlich operative Beschlüsse fassen. Dazu bedarf es einer Kabinettssitzung. Noch ist nichts beschlossen. Am Montag konnten sich die Minister auf kein Vorgehen einigen. Die Kluft zwischen Wirtschaftsminister Naftali Bennett (rechts) und Justizministerin Zipi Livni (links) war zu groß. Bennett forderte die Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde, eine Annexion des Westjordanlandes und einen Einmarsch in den Gazastreifen. Ministerin Livni will dagegen weiterhin am Friedensprozess festhalten.
Netanjahu positioniert sich irgendwo dazwischen. Er will die Infrastruktur der Hamas im Westjordanland zerschlagen und Abbas zur Auflösung der Gemeinschaftsregierung bewegen. Gleichwohl hat er am Sonntag vor dem Institut für Nationale Sicherheit sein Bekenntnis zur Zweistaatenlösung erneuert. Der künftige palästinensische Staat müsse jedoch entmilitarisiert sein.
Was wirklich im Interesse Israels ist, wird noch diskutiert. Für die Bewohner in Sderot und anderen Orten rund um den Gazastreifen sind das existenzielle Fragen. Jede Maßnahme, wie auch Nichtstun, kann weitere Raketenangriffe bedeuten – und damit die Gefahr, dass sie oder ihre Kinder getroffen werden.