Medizin

»Fenster zur Seele«

Der Israeli Didi Fabian ist Augenonkologe und behandelt Kinder in Pakistan und Afghanistan

von Katrin Richter  11.09.2023 14:25 Uhr

»Wenn ich meine Arbeit richtig mache, dann rette ich dem Kind das Leben, so einfach ist das«: Didi Fabian während einer Operation Foto: privat

Der Israeli Didi Fabian ist Augenonkologe und behandelt Kinder in Pakistan und Afghanistan

von Katrin Richter  11.09.2023 14:25 Uhr

Herr Fabian, was fasziniert Sie am Auge?
Es ist ein sehr kleines Organ. Und das Auge ist ein Fenster zur Seele, zum Gehirn, zum Körper. Es ist zudem wirklich faszinierend, dieses Organ im großen Maßstab zu sehen. Es ist das einzige Organ, in dem man Blutgefäße und Nerven sehen kann. Wenn man jemandem ins Auge blickt, kann man buchstäblich in seinen Körper hineinschauen. Man sieht alle Arten von Pathologien. In meinem Fachgebiet bin ich auf Augentumore spezialisiert. Ich muss zwar eine spezielle Linse verwenden, aber man sieht den Tumor physisch, indem man jemandem einfach ins Auge blickt, und das ist schon faszinierend. Außerdem kann man als Arzt durch einen Blick in die Augen viele andere Diagnosen stellen. Ich hatte schon Patienten, bei denen das Symptom eine verschwommene Sicht war, und viel später stellte sich heraus, dass sie an Leukämie erkrankt waren.

Stimmt es, dass Sie gerade mit Ihren Familien auf einem Roadtrip von Großbritannien nach Israel waren, als Sie der Ruf für das Augen-Projekt, in dem Sie heute arbeiten, ereilte?
Ja, ich habe meine Facharztausbildung am Sheba Medical Center abgeschlossen. 2014 sind wir mit der ganzen Familie nach London gegangen. Dort habe ich mein Fellowship gemacht, war Teil des London Ocular Oncology Service, und das habe ich 2017 beendet. Wir hatten ein Volkswagen-Wohnmobil, das ich in der Nähe von Hamburg gekauft habe. Als ich mein Stipendium beendete, war das eine Gelegenheit, noch einmal zu reisen, bevor ich anfangen wollte, in Israel zu arbeiten. Meine Familie und ich waren zwei Monate unterwegs, mit der Fähre nach Frankreich, dann über Belgien, Holland, Skandinavien nach Deutschland. Und in Berlin las ich dann vom Rb-NET, also vom Retinoblastom-Netzwerk.

Was haben Sie gemacht?
Na ja, ich war ja zu der Zeit ganz von unserer Reise eingenommen: Meine Frau, unsere beiden Töchter und ich waren ja irgendwie auf dem Weg nach Hause, wir wollten von Norditalien das Auto verschiffen und nach Israel fliegen. Die Einladung kam von den Beratern, mit denen ich in London gearbeitet hatte. Stellen Sie sich vor: Ich habe drei Jahre in London verbracht und nie etwas davon gehört, bis ich nach Berlin kam und eine Einladung erhielt, daran teilzunehmen. Also blieb meine Familie für eine Woche in Berlin. Ich flog nach Indien, wo ein Workshop mit Fachleuten aus dem Vereinigten Königreich, Indien und mehreren Ländern in Subsahara-Ostafrika, stattfand. Es war ein fünftägiger Workshop, der für mich faszinierend war. Es war ein lebensveränderndes Ereignis.

Was genau ist ein Retinoblastom?
Kurz gesagt: Augenkrebs bei Kindern bis zum Alter von fünf Jahren. Er kann sich in einem oder beiden Augen entwickeln. In Ländern mit hohem Einkommen wie Deutschland, Israel, dem Vereinigten Königreich und Nordamerika kann diese Krankheit geheilt werden. Nahezu 100 Prozent der Kinder überleben, in der Regel mit intakten Augen, manchmal sogar mit gutem Sehvermögen, weil die Diagnose sehr früh gestellt wird. In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, vor allem in Asien, Lateinamerika und Afrika, wird die Diagnose jedoch oft erst spät gestellt. Die Krankheit ist bei den Kindern, wenn sie dann in Behandlungszentren kommen, bereits sehr weit fortgeschritten. Viele überleben nicht.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie zum ersten Mal neben einem Kind mit dieser Krankheit standen?
Es ist ein großer Unterschied, ob es sich um ein Kind handelt oder um einen Erwachsenen. Ich erinnere mich an einen Fall in London während meines Stipendiums. Das Paar kam mit seinem Erstgeborenen, das ein paar Wochen alt war, zu mir. Die Eltern bemerkten einen weißen Reflex in einem der Augen, was das Hauptsymptom ist. Heute ist es einfacher etwas zu bemerken, weil wir alle Smartphones mit Kamera haben und ständig Fotos machen. Es ist also viel leichter, das zu erkennen. Und sie haben bemerkt, dass ihr Kind diese Unregelmäßigkeit hatte. Sie kamen in unsere Klinik, um es daraufhin untersuchen zu lassen. Wir fanden heraus, dass das Baby einen fortgeschrittenen Tumor im einen Auge und auch drei kleine Tumore im anderen Auge hatte.

Wie haben die Eltern reagiert?
Sie haben zuerst nicht wirklich verstanden, dass beide Augen betroffen sind, und wir mussten ihnen die schlechte Nachricht überbringen. Also haben wir ihnen gesagt, dass ein Auge ein Retinoblastom hat. Wir erklärten ihnen den Tumor und die Krankheit. Wir sagten ihnen, dass der Tumor im einen Auge sehr weit fortgeschritten sei. Aber das andere Auge sei auch betroffen. Und als wir das sagten, fing der Vater an zu weinen. Es war furchtbar. Es war wirklich sehr, sehr schwierig. Ich meine, emotional war das für mich sehr, sehr schwierig. Aber wie Sie schon sagten, ich meine, ich bin Arzt und behandle Krebs und überbringe schlechte Nachrichten. Aber ich werde diese Situation nicht vergessen.

Lernen Sie während des Studiums, wie man schlechte Nachrichten überbringt?
Ja, aber es geht nichts über Erfahrung. Man kann von seinem Tutor lernen, von dem Berater, mit dem man arbeitet. Ich hatte auch einen Kurs mit Schauspielern, die sozusagen die Rolle der Patienten spielten. Aber entscheidend ist die Erfahrung.

Sind Sie eher der direkte Typ oder versuchen Sie, die Diagnose etwas zu umschreiben?
Ich bin eher der direkte Typ. Es hängt aber wirklich davon ab, wer vor ihnen sitzt. Ich fange sanft an und komme schließlich zur Diagnose und ihrer Bedeutung. Und ich sage immer alles.

Sie arbeiten auch in Afghanistan und Pakistan. Wie geht das?
Zuerst einmal: Viele meiner Projekte werden über Online-Telemedizin durchgeführt, und es ist heute sehr einfach zu kommunizieren. Das Rb-NET ist das, worüber wir vorhin schon sprachen. Es handelt sich dabei um ein Online-Tumorboard. Wir besprechen Fälle und entscheiden, wie die Diagnose lautet, was die beste Behandlung ist, um die beste Entscheidung für den Patienten zu treffen. Seit 2020 gibt dieses Online-Tumorboard, an dem verschiedene Länder teilnehmen. Es begann mit afrikanischen Ländern, aber wir haben es auf andere Länder ausgeweitet, darunter Indonesien, Pakistan und sogar Iran.

Sie werden sicherlich oft gefragt, wie das geht als Israeli?
Ja, das bleibt nicht aus. Ich bin Israeli, aber das spielt im Job eigentlich keine Rolle. Politik ist etwas für Politiker. Wir sind alle Mediziner: In unserer Welt gibt es keine Grenzen. Wir sind an Patienten interessiert. Und es spielt keine Rolle, wo sie geboren wurden. Wir überlassen die Politik den Politikern und es funktioniert. Ich meine, ich habe Kollegen aus Teheran. Ich bin sogar Mitautor einer wissenschaftlichen Arbeit aus Teheran mit israelischer Beteiligung über die Global Study Group. Fast alle Länder der Welt sind Teil dieser Gruppe, sogar Saudi-Arabien, einschließlich Libyen. Mithilfe der Telemedizin treffen wir uns einmal im Monat zum Beispiel mit Behandlungszentren in Uganda. Sie stellen einige schwierige Fälle vor, ich lade internationale Experten aus vielen Ländern ein. So verfahren wir auch mit Tansania, mit Äthiopien und anderen Ländern, Kenia und so weiter. Dies ist also ein Beispiel dafür, dass ich in Afghanistan und Pakistan nicht vor Ort sein muss.

Wie genau gestaltet sich das Arbeiten in Afghanistan?
Es ist eine ganz besondere Situation. Afghanistan wird seit 2021 von den Taliban kontrolliert, einer radikalen islamistischen Bewegung. Gewöhnliche afghanische Staatsangehörige haben keinen Pass. Es ist ihnen nicht erlaubt, ins Ausland zu gehen. Und jetzt gibt es keine Behandlungszentren für Retinoblastome. Nochmals, das Retinoblastom ist der Schwerpunkt. Wenn man sich die Inzidenz in Afghanistan ansieht, rechnet man mit etwa 100 neuen Fällen pro Jahr bei Neugeborenen, aber sie können nirgendwo hingehen. Es gibt eine Organisation namens Noor, was für National Organisation for Ophthalmic Rehabilitation steht. Sie hat vier Zentren in vier großen Städten: Kabul, Kandahar und Masar-e Scharif. Die liegen sehr weit voneinander entfernt. Kinder mit Retinoblastom werden aber oftmals wieder nach Hause geschickt, weil es an Behandlungsmöglichkeiten mangelt. Diese Kinder sterben. Sie sterben zu Hause. Im Nachbarland, im Osten Pakistans, gibt es aber mehrere hervorragende Behandlungszentren.

Wie kommen die Kinder aber nach Pakistan ohne Pass?
Zuvor kurz noch: Pakistan ist kein reiches Land, aber es gibt sehr gute Behandlungszentren. Ich stehe mit fünf oder sechs Zentren in Kontakt. Ich habe zwei Zentren kontaktiert, eines in Karachi, einer Stadt im Süden, und eines in Lahore, das ungefähr auf dem gleichen Breitengrad liegt wie Kabul, die Hauptstadt Afghanistans. Wir haben ein multidisziplinäres Team. Es gibt die Augenärzte, den pädiatrischen Onkologen und den Pathologen. Das ist hier das Kernteam. Ich habe vorgeschlagen, eine formelle Überweisung einzurichten, damit die Kinder zunächst im Norden, in Zentren in Afghanistan, diagnostiziert werden. Dann können sie nach Kabul, um dort eine Genehmigung für den Grenzübertritt zu erhalten. Das ist mit das Wichtigste. Das ist das Ergebnis von mehreren Monaten Arbeit.

Wie geht es dann weiter?
Es gibt einen pakistanischen Koordinator. Wir sind alle in derselben WhatsApp-Gruppe, technologisch ist das ja heute sehr einfach. Sobald das Kind und seine Eltern die Grenze überquert haben, gibt es einen engagierten Fahrer, einen Taxifahrer, der auf der anderen Seite der Grenze auf sie wartet. Er bringt sie direkt ins Krankenhaus, damit sie sich nicht verirren. Afghanistan und Pakistan klingt für uns ähnlich, aber für sie ist es eine andere Sprache, eine andere Währung, eine andere Kultur. Es geht um eine Familie mit einem Kind, das einen Augentumor hat, an dem es sterben kann. Der Fahrer bringt die Familie direkt in das Krankenhaus in Lahore. Dort gibt es einen Unterschlupf, in dem sie so lange wie nötig bleiben können. Die Behandlungen werden von der pakistanischen Regierung subventioniert. Das haben wir erfahren. Und sie gehen direkt zu einem Kinderonkologen, werden offiziell diagnostiziert und erhalten eine Behandlung.

Welche Krankheitsbilder zeigen sich dort am meisten?
Es kann ein Auge betroffen sein oder auch beide Augen; ein frühes oder ein fortgeschrittenes Stadium, eine asymmetrische Erkrankung, bei der ein Auge fortgeschritten ist und das andere Auge nicht. Das kann mit einer einzigen Operation geheilt werden, und der Patient kann in einer Woche nach Hause und zurück nach Afghanistan gehen. Oder es kann eine sechsmonatige systemische Chemotherapie erforderlich sein.

Wie wird das finanziert?
Wir haben Mittel vom Sheba Medical Center, von einer anderen Quelle in Großbritannien und einer Nichtregierungsorganisation erhalten, mit denen wir die Kosten übernehmen. Wir bezahlen den Fahrer und die Koordinatoren. Es gibt einen afghanischen Koordinator, einen pakistanischen Koordinator, und der bezahlt die Unterkunft für die Familie. Es geht ja nicht nur um die Unterkunft, sondern auch darum, dass beide Elternteile ihr Zuhause verlassen müssen, wenn sie mit dem Kind ins Behandlungszentrum kommen. Man muss sich immer bewusst sein, dass es sich bei afrikanischen Ländern nicht um Deutschland oder Israel handelt, wo man ins Krankenhaus gehen kann und nach einem Tag oder ein paar Tagen wieder nach Hause fahren und sein Leben weiterführen kann. Die Familien müssen alles stehen und liegen lassen, eine lange Reise auf sich nehmen und manchmal wochenlang im Krankenhaus bleiben. Ich weiß, dass es in afrikanischen Ländern vorkommt, dass die Eltern beschließen, ihr Kind nicht ins Behandlungszentrum oder ins Krankenhaus zu bringen, weil sie noch zehn andere Kinder haben, um die sie sich kümmern müssen. Sie können also nicht einfach alles hinter sich lassen und sich um ein einzelnes Kind kümmern, selbst wenn es einen solchen Tumor hat. So schwer es ihnen fällt. Es ist also sehr schwierig. Und da setzen wir mit unserem Programm an.

Wie verarbeiten Sie das alles?
Ich rede mit meiner Frau. Aber, wissen Sie, ich kann nicht alle meine Probleme oder emotionalen Probleme mit nach Hause nehmen. Ich habe ein paar Kollegen aus meinem Krankenhaus hier aus dem Netz. Ich habe einen sehr guten Freund aus Seattle. Er leitet den onkologischen Dienst in Seattle. Wir haben unser Stipendium gemeinsam absolviert. Also diskutieren wir hin und wieder über schwierige Fälle. Dabei kann es sich um etwas Fachliches handeln, aber auch um emotionale Probleme. Man findet seinen Weg.

Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit?
Bei meiner täglichen Arbeit im Sheba Medical Center treffe ich Patienten mit Verdacht auf einen Tumor. Bis sie von der Erstdiagnose in einer anderen Klinik zu mir kommen, können einige Wochen vergehen. Dann untersuche ich sie und kann ihnen sagen: Sie haben nichts. Es ist ein gutartiges Muttermal, und das bedeutet, dass ich ihren Tag gerettet habe. Deshalb mag ich meine Arbeit auch so sehr. Sie ist ganz anders als bei Augenärzten, die sich hauptsächlich mit der Verbesserung der Lebensqualität befassen, nicht mit dem Retten von Leben. Wenn ich meine Arbeit richtig mache, dann rette ich dem Kind das Leben, so einfach ist das.

Mit dem Mediziner des Sheba Medical Center in Ramat Gan sprach Katrin Richter.

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