Der Kibbuz Urim liegt im nordwestlichen Negev, mit einem spektakulären Blick in die Wüste. Touristen kamen hierher, sich in den Ferienwohnungen zu entspannen und die Gegend in Jeeps oder auf Pferden zu erkunden. Der Tourismus war eine Einnahmequelle des Kibbuz – die andere ist die Landwirtschaft.
Bis zum 7. Oktober. Die Siedlung ist nur etwa zehn Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Am »Schwarzen Schabbat« sind zahlreiche Geschosse in Urim niedergegangen. »Doch wir hatten wohl noch Glück. Erst am Tag danach haben sie bei uns vier oder fünf Terroristen entdeckt, die sich im Gelände versteckt hielten«, erzählt Achikam Shelev.
Er ist verantwortlich für die Landwirtschaft im Kibbuz, in dem etwa 500 Menschen leben. Shelev berichtet, dass gleich nach Kriegsbeginn die Hälfte der thailändischen Fremdarbeiter ihre Sachen gepackt haben. Nun fehlen sie bei der Feldarbeit. »Du kannst dich im Moment nur um das Dringendste kümmern. Alles andere musst du liegen lassen.«
Rund 5000 Arbeiter aus Thailand, Nepal und den Philippinen sind vor dem 7. Oktober in der Landwirtschaft im Süden Israels beschäftigt gewesen. Allein 33 Thailänder wurden von der Hamas ermordet, zahlreiche verschleppt. Seitdem geht die Angst um. Nicht wenige sind schon nach Hause zurückgekehrt. Die Landwirte versuchen sie zu halten, die Regierung will ihnen helfen, Genehmigungen für neue Fremdarbeiter sollen erteilt werden.
Viele thailändische Fremdarbeiter fehlen sie bei der Feldarbeit.
Doch momentan fehlen sie an allen Ecken und Enden, beispielsweise bei der Bewässerung oder der Ernte sowie der Aussaat auf den Feldern und in den Gewächshäusern. In Kooperation mit dem Kibbuz Kissufim baut Urim auf 26.000 Dunam, etwa 2600 Hektar, Kartoffeln, Mohrrüben, Zwiebeln, Erdnüsse, Weizen und Gerste an.
Am Morgen sind ein paar israelische Freiwillige gekommen, berichtet Achikam Shelev. »Sie helfen uns, obwohl hier weiterhin Geschosse fliegen, andauernd Artilleriefeuer zu hören ist. Es ist großartig. Sie kommen aus dem ganzen Land, unter ihnen ist sogar ein Physikprofessor vom Technion in Haifa.«
Aber die Freiwilligen können die Lage auch nicht ändern. Wie es jetzt weitergeht, ist unklar: »Kann sein, dass wir alle Kartoffeln wegwerfen müssen. Kann sein, dass wir den Weizen nicht ernten können«, sagt Shelev.
Irgendwie will sich hier niemand den Mut rauben lassen, obwohl der Schock tief sitzt.
Er ist sich sicher, dass die Lage noch eine Weile andauern wird. »Als ich hier aufwuchs, war alles ruhig. Wir sind mit den Eltern damals noch an den Strand in Gaza gefahren. Meine Eltern gehörten der Arbeiterbewegung an, wir glaubten an den Frieden mit unseren Nachbarn.« Mit den Jahren verlor er diese Hoffnung. »Wir müssen unser Denken, unsere Mentalität ändern. Wir können die andere Seite nicht verstehen«, ist Shelev überzeugt. »Jetzt müssen wir die Terroristen aus Gaza vertreiben und darauf achten, dass sich dort nicht wieder so etwas entwickelt.«
Gegenüber, auf der anderen Seite der Landstraße, liegt der Moschaw Patish. Auch hier sind die Menschen am 7. Oktober vom größten Übel verschont geblieben, während Terroristen ein Massaker auf einem Festival in der Nähe des Kibbuz Re’im anrichteten. Patish war eine der nahen Siedlungen, in die sich die Überlebenden an diesem Tag retteten. »Und inzwischen wissen wir auch von Plänen der Hamas, dass unsere Siedlung ebenfalls auf der Liste stand. Aber irgendwie sind sie nach Ofakim abgebogen, wo sie unzählige Menschen ermordeten«, sagt Yair Chawiwian.
Niemand in der Region will sich den Mut rauben lassen.
Der Landwirt hat einen Betrieb mit rund 100 Kühen. Die meisten hier in der Siedlung sind in der Milchproduktion tätig, erzählt er. »In Patish leben rund 300 Einwohner und etwa 40.000 Tiere.« Auch von hier sind zahlreiche thailändische Fremdarbeiter gleich nach Beginn des Krieges geflohen. »Sie hatten Angst, nicht so sehr vor den Raketen, eher vor den Terroristen.« Ohne die Hilfe der Fremdarbeiter haben sie nun auch in Patish ein großes Problem. »Wir versuchen, uns im Moschaw gegenseitig zu helfen. So gut es geht.«
Sein betagter Vater wohnt noch hier, in einem der Flachbauten, die vor Jahrzehnten errichtet wurden. Der Moschaw wurde in den 50er-Jahren gegründet. Sie haben alle keinen Schutzraum, sagt Chawiwian. »Bei Alarm machen wir einfach weiter. Und wir beten, dass uns keine Rakete auf den Kopf fällt.«
Irgendwie will sich hier niemand in der Region den Mut rauben lassen. So scheint es. Obwohl der Schock des 7. Oktober tief sitzt, viele um Familienmitglieder und Freunde trauern oder auf die Rückkehr der Vermissten und Entführten hoffen. Dazu kommt die verzweifelte wirtschaftliche Lage, die jetzt in der Region immer deutlicher wird.
Die Ernte zum Teil vernichtet, viele Schäden überall, Arbeiter fehlen, Lkw-Fahrer wurden zum Armeedienst einberufen. Die Einnahmeausfälle könnten manchen Landwirt an den Rand der Existenz bringen, sagen sie.
20 Prozent aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse Israels kommen aus dieser Region, der Anteil des hier produzierten Gemüses liegt bei 40 Prozent. Der Generalsekretär des nationalen Farmerverbandes, Uri Dorman, sagte unserer Zeitung: »Trotz der schwierigen Situation gibt es derzeit keinen Engpass bei den landwirtschaftlichen Produkten.« Die Landwirte würden alles unternehmen, um der Bevölkerung weiterhin die Produkte bereitstellen zu können, versichert Dorman. Doch brauche es jetzt die Unterstützung des Staates. »Sollte sich die Lage jedoch in der nächsten Zeit nicht verbessern, müssen wir mit einem Mangel an bestimmten Produkten rechnen.«
Wenn die Produkte aus der Region nahe des Gazastreifens, auf Hebräisch »Otef Aza« genannt, ausbleiben, kann das in absehbarer Zeit auf Märkten oder in den Läden zu spüren sein. Heimische Kartoffeln, Tomaten oder Gurken könnten fehlen.
Denn bei den anhaltenden Kampfhandlungen verkommt das Gemüse auf den Feldern und kann derzeit auch nicht neu angepflanzt werden – so wie im Kibbuz Nir Yitzhak. Der ist nur vier Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Am 7. Oktober gelang es einigen Terroristen, in die Siedlung einzudringen. Drei Kibbuzmitglieder wurden ermordet. Sie hatten als Mitglieder des Zivilschutzes versucht, ihre Familien und ihr Zuhause zu verteidigen. Ein anderer kam in der benachbarten Siedlung Sufa ums Leben. Neun Menschen aus dem Kibbuz wurden verschleppt, ihr Schicksal ist unklar.
Viele Schäden an Gebäuden und Einschusslöcher am gelben Eingangstor zeugen noch von den Kämpfen. Inzwischen haben fast alle den Kibbuz verlassen, in dem zuvor 600 Menschen lebten. Die Familien sind in einem Hotel in Eilat untergebracht. »Wir sind jetzt hier nur etwa 20 Männer, die die Stellung halten«, sagt Shai, der seinen vollen Namen nicht nennen und auch nicht fotografiert werden will. Der Militärposten achtet darauf, dass wir nicht weiter in den Kibbuz hineingehen.
Shai erzählt, dass in Nir Yitzhak etwa 99 Prozent der Felder und Gewächshäuser auf der westlichen Seite der Straße liegen, die parallel zum Gazastreifen verläuft. Insgesamt 30.000 Dunam, etwa 3000 Hektar. »Alles, was dort wächst, wandert jetzt in den Müll. Mango, Kartoffeln, Mohrrüben: Alles verkommt, niemand kann sich darum kümmern.«
Die Armee hat das Gebiet zur Sperrzone erklärt. Das surrende Geräusch von Drohnen ist zu hören.
Die Armee hat das Gebiet zur militärischen Sperrzone erklärt. Die Lage ist zu gefährlich. Immer wieder zeugen ohrenbetäubende Detonationen von den nahen Kampfhandlungen. Das surrende Geräusch von Drohnen ist zu hören. »Im Moment haben wir keine Genehmigung, auf unsere Felder zu gehen. Wir wissen, dass dort viel Schaden angerichtet wurde. Wasserleitungen wurden zerstört, alles vertrocknet. Wahrscheinlich ist alles verkommen, wir wissen es noch nicht ganz genau. Ich hoffe, dass wir uns in den kommenden Tagen ein Bild machen können.«
Shai ist im Kibbuz Nir Yitzhak geboren, lebt seit 57 Jahren hier. »Wir sind keine Helden. Wir halten einfach die Stellung«, sagt er. Nun solle man abwarten, was kommt. »Und sobald die Armee uns das Okay gibt, machen wir hier weiter.«