Ein Bruder dachte an Selbstmord. Eine Schwester geht nicht mehr in die Schule. Ein Vater spricht kaum noch. Mit jedem Tag, der verstreicht, wächst bei den Familien der seit dem 7. Oktober von der Hamas gefangenen Geiseln die Verzweiflung.
Sie hatten neue Hoffnung geschöpft, als über einen Deal verhandelt wurde, bei dem es um eine mögliche Feuerpause und die Freilassung einiger ihrer verschleppten Lieben vor Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan ging. Aber diese inoffizielle Frist verstrich am Montag ohne jede Vereinbarung.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Versprechen eines »vollständigen Sieges« im Krieg gegen die Terror-Organisation Hamas, die im Gazastreifen regiert und die verbliebenen Geiseln dort festhält, klingt nach fünf emotional erschöpfenden Monaten hohl in den Ohren vieler Familien der Geiseln.
Jede Minute
»Wir lesen die Nachrichten jede einzelne Minute. Ägypten sagt etwas, die Katarer sagen etwas anderes, die Amerikaner sagen, ein Deal ist nahe, Israel sagt, dass das nicht der Fall ist«, so Scharon Kalderon, deren Schwager Ofer weiter gefangen gehalten wird. »Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, aber wir haben seit Monaten nichts über Ofer gehört. Nichts, das uns helfen kann zu atmen.«
Von der Hamas angeführte Terroristen hatten bei ihrem Angriff am 7. Oktober im Süden Israels 1200 Menschen - zumeist Zivilisten - getötet und etwa 250 Geiseln genommen. Seitdem sind im Zuge der anhaltenden israelischen Offensive im Gazastreifen angeblich mehr als 31.000 Palästinenser ums Leben gekommen, wie das von den Hamas-Terroristen kontrollierte Gesundheitsministerium in dem Küstengebiet sagt. Weder können diese Zahlen bestätigt werden, noch wird bei der Hamas ein Unterschied zwischen Terroristen und Zivilisten gemacht.
Ungefähr 120 Geiseln aus Israel hatten im Zuge einer Vereinbarung im November heimkehren können. Im Gegenzug kamen Hunderte Palästinenser aus israelischen Gefängnissen frei.
Stilleres Leiden
Drei Geiseln wurden während einer versuchten Rettungsmission versehentlich von israelischen Soldaten getötet. Jetzt geht es darum, die noch verbleibenden Geiseln, von denen mindestens 34 nach Angaben der israelischen Regierung tot sind, zurück nach Hause zu bringen.
Manche Familien setzen ihre Verzweiflung in unablässiges Trommeln für stärkere Bemühungen um eine Freilassung ihrer Lieben um, reisen zu den Vereinten Nationen in New York, marschieren vom Süden Israels nach Jerusalem oder tragen rote T-Shirts mit dem Aufdruck »Bringt sie heim«, wie etwa beim Jerusalemer Marathon. Aber bei anderen Angehörigen hat ein stilleres Leiden eingesetzt.
Man könne einige umtriebige Familien sehen, die beispielsweise vor die Fernsehkameras gingen, Lärm verursachten, sagt Ricardo Grichener, der Onkel der 22-jährigen Geisel Omer Wenkert. Womit er offenbar ausdrücken will, dass derartige Aktivitäten ein Ventil für äußerste innere Anspannung sein könnten. Andere Angehörige von Geiseln gingen nicht einmal mehr aus ihrem Haus.
Zwölfter Stock
Wie Scharon Kalderon und ihr Mann Nissan, deren Zuhause im Kibbuz Nir Os beim Hamas-Angriff am 7. Oktober zerstört wurde. Seitdem sind sie im zwölften Stock eines Wohngebäudes in der israelischen Stadt Ramat Gan geblieben. Ofer, die Geisel, ist Nissans einziger Bruder, und er sagt, dass er kürzlich daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen.
»Ich schlafe nicht, ich esse nicht. Arbeite nicht. Nichts. Ich verliere meinen Verstand. Das ist alles. Es ist zu viel«, sagt er. »Wann immer er auf den Balkon geht, habe ich Angst«, fügt Scharon hinzu.
Internationale Vermittler waren optimistisch gewesen, dass sie bis zum Ramadan einen Deal erreichen könnten, der neben der Freilassung Dutzender Geiseln und einer noch größeren Zahl palästinensischer Gefangener auch umfangreiche Hilfsgütertransporte in den Gazastreifen beinhalten sollte. Aber die Hamas - die Organisation, die den Krieg begann und bereits weitere Massaker angekündigt hat - wollte die Zusicherung einer längerfristigen Einstellung der Kampfhandlungen, was Israel ablehnte.
Medizinische Hilfe
»Wir sehen keine Aussicht auf einen Deal, es sei denn, dass (US-Präsident Joe) Biden ein Wunder erzeugt. Wir sehen keinen Ausweg. Wir sehen keinen Grund, warum die Hamas flexibel sein würde. Sie gewinnen nichts«, sagt Grichener. »Wir üben Druck auf die (israelische) Regierung aus, aber ich glaube, ihre Fehler wurden schon gemacht.«
Gricheners Neffe Omer leidet an einer Verdauungskrankheit und benötigt Medikamente. Seine Familie bezweifelt, dass medizinische Hilfe für Geiseln, die im Januar nach Gaza gebracht wurde, ihn jemals erreicht hat.
Es gibt weiter Treffen zwischen den Geisel-Angehörigen und Vertretern des israelischen Kriegskabinetts, aber die Familien fühlen sich machtlos. Viele haben keine offiziellen Updates über den Status ihrer Lieben erhalten, klammern sich an das Bisschen, das im November freigelassene Geiseln übermittelt haben.
Gelähmte Familie
Schlomi Berger, Vater der 19-jährigen Agam Berger, erfuhr damals von einer von ihnen, dass seine Tochter am Leben sei und ihm alles Gute zum Geburtstag wünsche. Aber seitdem hat er nichts mehr gehört.
Und so sind nach kurzer Erleichterung wieder große Angst und Unsicherheit bei ihm eingekehrt - zumal angesichts der Angaben einiger Ex-Geiseln über die Bedingungen, unter denen sie gefangengehalten worden waren.
»Niemand kennt ihre Situation. Ob sie Luft hat, ob sie Wasser hat, ob sie Binden für ihre Periode hat. Es ist verrückt. Ich weiß nicht, ob Jemand sie sexuell missbraucht hat«, so Berger über seine Tochter. »Wir wissen nicht, ob sie lebt oder tot ist. Wir wissen es einfach nicht.«
Die Situation hat seine ganze Familie gelähmt. Eine seiner drei Töchter, eine Oberschülerin, ist seit dem 7. Oktober nicht mehr zur Schule gegangen, eine jüngere zweite isst nicht mehr. Seine Frau, eine Wirtschaftsingenieurin, geht nicht zur Arbeit.
Leidvolle Monate
Ähnlich geht es der Familie von Or Lewi. Er wurde in den Gazastreifen verschleppt, seine Frau Ejnaw am 7. Oktober getötet. Ihr zweijähriger Sohn Almog lebt jetzt bei seinen Großeltern, Ors Eltern - die nach fünf leidvollen Monaten kaum mehr wiederzuerkennen sind, wie Michael Lewi, Ors Bruder, schildert.
Sein Vater spricht kaum noch, und »vor dem 7. Oktober war das Letzte, was man über ihn sagen konnte, dass er fragil war. Und jetzt hat jeder, der ihn sieht, Angst, ihn zu umarmen«, sagt Michael.
Am vergangenen Montag sahen Scharon und Nissan Kalderon zu, wie die Sonne unterging. Der erste volle Tag des Ramadan ging zur Neige. »Wir dachten wirklich, heute ist der Tag der Tage«, sagt Scharon. »Aber leider war es nur ein Tag wie jeder andere.« Wie jeder andere, seit ihr Leiden begonnen hat.