Meinung

Falsche Schlüsse aus einem falschen Spiel

Anna Staroselski (l.) übt scharfe Kritik an der Philosophin Susan Neiman Foto: Chris Hartung / picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB

Während die Feuilleton-Debatten über den Hochstapler Fabian Wolff allmählich abklingen, wird seine Geschichte nun geschickt zu einem Plädoyer für mehr Kritik an Israel umgemünzt.

»Warum reden wir, angesichts, der Ereignisse in Israel, über Fabian Wolff?«, fragt sich die amerikanische Philosophin Susan Neiman in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Gegenfrage: Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?

Gewissensfrage Geradezu obsessiv wird hierzulande über Israel gesprochen. Jeder scheint eine Meinung zu dem einzigen jüdischen Staat auf der Welt zu haben, egal, ob man schon dort gewesen ist oder - wie der »Israelkritiker« Fabian Wolff - nicht. Neiman wünscht sich dennoch mehr »Israelkritik« in Deutschland. Das muss die deutschen Ohren, die sich nach Schuldentlastung sehnen, erfreuen.

Die Debatte über Wolffs Outing als Fake-Jude bezeichnet Neiman hingegen als »irre« und behauptet, der Grund, warum man über ihn spräche, wäre, dass Wolff Israel kritisiere. Die Aufregung über die Causa Wolff hat also nichts damit zu tun, dass er sich als deutscher Nicht-Jude eine jüdische Identität aneignete und sich aus dieser, von ihm stets betonten Position anmaßte, über jüdisches Leben und Israel zu urteilen und mehr noch öffentlich Juden anzugreifen und zu diffamieren.

An mehreren Stellen nimmt Neiman Wolff in Schutz und betont, dass seine Argumente, nur weil er kein echter Jude ist, nicht an Wert verlieren dürften. Nicht Fabian Wolffs Verhalten sei kritikwürdig, sondern »die Deutschen, die sich aufgrund ihres »schlechten Gewissens wegen ihres Nazi-Opas«, nicht trauen würden, Israel zu kritisieren, seien das eigentliche Problem. Klassische Täter-Opfer-Umkehr.

ZWEIFEL Susan Neiman liegt offensichtlich etwas daran, sich für Fabian Wolffs Positionen starkzumachen. Gleichwohl behauptet sie, ihn gar nicht gut zu kennen. Umso interessanter erscheint, dass Fabian Wolff, neben Autoren wie Dirk Moses und Eva Menasse, an dem von Susan Neiman gemeinsam mit dem Historiker Michael Wildt herausgegebenen Buch »Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Der neue Streit über die Wurzeln des Holocaust und die Gewalt im 20. Jahrhundert« mitgeschrieben hat.

Als gebürtige US-Amerikanerin, die nicht in Deutschland als Jüdin aufgewachsen und entsprechend nicht von einer deutsch-jüdischen Sozialisation geprägt ist, mag der Philosophin und Leiterin des Einstein-Forums nicht bewusst sein, dass Juden in diesem Land Antisemitismus spüren, noch bevor er in der Presse steht und einen anderen Erfahrungskanon haben als sie selbst.

Bei jeder Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern stellen sich Juden in Deutschland auf antisemitische Beschimpfungen, Ausschreitungen oder gar körperliche Übergriffe ein. Bedauerliche Realität.

Es ist auffällig, dass sogenannte prominente jüdische Stimmen oftmals keine deutsch-jüdische Sozialisation haben, jedoch als Repräsentanten des deutschen Judentums Experten-Renommee genießen. Dabei sprechen sie für niemand anderes als für sich selbst.

Ignoranz Dass Frau Neiman weniger an der Realität der in Deutschland lebenden Juden als an der pauschalen Verurteilung Israels liegt, lässt sich auch hieran ablesen: »Aber die Deutschen sollten, wenn es um Juden geht, nicht immer nur an die Vergangenheit denken, sondern auch daran, was in Israel in der Gegenwart passiert.«

Unabhängig davon, dass sie mit keinem Wort erwähnt, dass mehrere hunderttausend Israelis seit Monaten auf der Straße gegen die eigene Regierung demonstrieren, fordert sie, dass sich »die Deutschen« lieber mit den Juden in Israel, als mit den Juden in Deutschland beschäftigen sollen.

Im besagten FR-Interview stellt Neiman außerdem die Betroffenheit von Juden infrage, obwohl sie im gleichen Atemzug erklärt, dass jeder Jude in seinem Leben schon mal Antisemitismus erfahren hat. Gerade mit Letzterem verdeutlicht sie - scheinbar ungewollt - die Relevanz der Betroffenenperspektive. Als es im Interview später jedoch um Neimans neues Buch »Links ist nicht woke« geht, fällt ihr wieder ein, dass Betroffenenperspektiven doch nicht missachtet werden sollen.

»FREMDE« Bizarr ist zudem, wie Neiman die kollektive Erfahrung der Schoa ausklammert, stattdessen aber die Leser über biblische Geschichte instruiert: Juden waren Fremde in Ägypten und haben deshalb »auf die Rechte anderer Fremder« zu achten. »Auch wenn sie Palästinenser sind«, fügt sie hinzu.

Neimans dichotome Argumentation stellt Selbstbemitleidung oder den Bezug auf fremdes Leid, Betroffenheit oder Universalismus, das Einstehen für Palästinenser oder das Gegen-sie-Sein, einander gegenüber. Zwischenperspektiven tauchen nicht auf. Dieses unterkomplexe Weltverständnis, das Juden zu Tätern macht, lässt zudem den bedeutsamen Aspekt der Wehrhaftigkeit und Selbstwirksamkeit der Betroffenenperspektive außen vor.

»Jeder demokratisch gesinnte Mensch, der auch nur ein bisschen über den radikalen Rechtsruck in Israel weiß«, solle, so Neiman, »seine Vernunft dazu gebrauchen, den Staat Israel zu kritisieren.«

PERSPEKTIVE Was sie darunter versteht, erklärt sie an anderer Stelle: »Vernunft ist nicht nur Logik, sondern sie achtet auf Empirie, die man untersucht und so versucht, eine möglichst breite Perspektive für Ereignisse einzunehmen.«

90 Prozent der antisemitischen Vorfälle stammten von Rechten, behauptet Neiman. Die Empirie, genauer gesagt, der Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus liefert Daten, die besagen, dass bei 53 Prozent der antisemitischen Vorfälle aus dem Jahr 2022 der politisch-weltanschauliche Hintergrund unbekannt ist. 21 Prozent wurden dem verschwörungsideologischen Milieu und »nur« 13 Prozent der Vorfälle dem rechtsextremen beziehungsweise rechtspopulistischen Milieu zugeordnet.

debatte Das besondere an israelbezogenem Antisemitismus ist, dass er allen politisch-weltanschaulichen Hintergründen zugeordnet wird. Israelbezogener Antisemitismus darf nicht verharmlost werden, daher ist es besonders wichtig, dass Debatten über die israelische Regierung differenziert und nicht pauschalisierend geführt werden und Betroffene ernst genommen werden.

Susan Neimans antiisraelische Positionierung ist kein Geheimnis. Sie gehört zu den Initiatoren der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die sich als Reaktion auf den Bundestagsbeschluss von 2019, die israelfeindliche Boykottkampagne BDS als antisemitisch zu verurteilen, gründete, um die antisemitische Hetzkampagne vom Antisemitismusvorwurf freizusprechen.

Israel wird als Apartheidsstaat und kolonialistisches Projekt diffamiert. Unabhängig davon, dass Juden bereits zur Zeit der Antike nachweislich in Israel lebten, wurde das moderne Israel, anders als Kolonien zur Zeit des Imperialismus, von jüdischen Flüchtlingen, die aufgrund von Pogromen im russischen Zarenreich, in arabischen Ländern und später der Schoa geflohen waren, aufgebaut. Diese Flüchtlinge hatten nichts, waren Überlebende und weit davon entfernt eine ausbeuterische Kolonialmacht zu sein.

POSTKOLONIAL In der Postkolonialen Theorie werden diese Überlebenden jedoch zu Tätern gemacht. Davor schreckt auch Neiman nicht zurück: »Es geht nicht um eine Gleichsetzung von Holocaust und Nakba, sondern darum, wie das eine das andere bedingt habe«, sagte sie der Frankfurter Rundschau als Erklärung dafür, warum sie entschied, die in Israel abgesagte Veranstaltung des Goethe-Instituts über Holocaust, Nakba und deutsche Erinnerungskultur im Einstein Forum auszutragen. Das sei ein »Test für die Meinungsfreiheit«, so Neiman.

Der Bundestagsbeschluss zur Verurteilung von BDS wird hingegen als Zensur diskreditiert. Neiman behauptete in einem Doppelinterview mit dem Historiker Michael Brenner außerdem, dass die Ideenschöpfung des Bundestagsbeschlusses auf die AfD zurückzuführen sei. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn sich der Deutsche Bundestag, die Herzkammer unserer Demokratie, Beschlüsse von einer rassistischen Partei diktieren ließe. 2021 fanden sich vier demokratische Parteien – CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP – zu einer überparteilichen Einigung zusammen, um ein klares Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Mit der AfD hat das überhaupt nichts zu tun.

Errungenschaft Antisemitismus nimmt in diesem Land zu und nicht ab. Angesichts dieser Tatsache sollte die konsequente Bekämpfung von Judenhass das gemeinsame Anliegen und nicht der Wunsch nach mehr moralisierendem Zeigefinger gegenüber Israel sein. Dass nun mittlerweile mit Juden gesprochen wird und nicht nur über sie, ist eine über viele Jahre erkämpfte Errungenschaft.

Das mag in Israel und in den USA anders sein, auch weil sich die jüdischen Lebensrealitäten dort stark von Deutschland unterscheiden. Hierzulande sind und bleiben jüdische Betroffenenperspektiven jedoch relevant und schützenswert.

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