Ein Jahr nach dem 7. Oktober

»Es kam wie aus heiterem Himmel«

Ein israelischer Soldat läuft durch die Ruinen des Kibbuz Kfar Azza. Dort wurden am7. Oktober mehr als 100 wehrlose Bewohner von palästinensischen Terroristen ermordet und entführt. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Seine Schwiegertochter war eines der ersten Todesopfer des Hamas-Terrorüberfalls am 7. Oktober vor einem Jahr. Der 82-jährige Gadi Stahl hatte am Vorabend bis spät mit Familie und Freunden in einer Hütte in einem Waldstück in der Nähe seines Kibbuz Kfar Aza am Rande des Gazastreifens gefeiert. »Ich bin glücklich und zufrieden schlafen gegangen«, erzählt der deutschstämmige Israeli, der vier Kinder und neun Enkelkinder hat. Seine Eltern waren nach der Nazi-Machtergreifung 1933 aus Deutschland geflohen, weil sie sich im damaligen Palästina eine bessere Zukunft für ihre Nachkommen erhofft hatten. 

An dem verhängnisvollen Morgen sei er dann um sechs Uhr aufgewacht, sagt Stahl. Kurz darauf habe er merkwürdigen Lärm gehört. »Später wurde klar, es war das Pfeifen der Raketen.« Er sei daraufhin in den Schutzraum seines Hauses geeilt, in dem er inzwischen allein lebt. »Es kam wie aus heiterem Himmel«, beschreibt der alte Herr mit den wachen Augen den Massenangriff der Hamas und anderer extremistischer Organisationen aus dem Gazastreifen. »Es hatte schon länger keine Raketenangriffe gegeben, es gab zuvor keine Eskalation.« 

Der Tag des schlimmsten Massakers an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg, das ausgerechnet am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) geschah, ist seitdem in Israel auch als »Schwarzer Sabbat« bekannt. Israel sieht sich inzwischen auch in einem erbitterten Mehrfrontenkrieg mit der sogenannten »Widerstandsachse« des Irans und seinen Verbündeten im Libanon, Syrien, Irak und im Jemen. 

Augenzeugen beschrieben schlimmste Gewalt

Der israelische TV-Sender N12 berichtete zuletzt unter Berufung auf Militärkreise, nach neuen Erkenntnissen seien an dem Tag etwa doppelt so viele Angreifer aus dem Gazastreifen nach Israel vorgedrungen als zunächst angenommen. Demnach sollen insgesamt 6.000 Gaza-Einwohner beteiligt gewesen sein, unter ihnen etwa 3.800 Mitglieder der Hamas-Eliteeinheit Nuchba. Rund 5.000 Raketen seien allein an dem Tag auf Israel abgefeuert worden. 

Rund 1.200 Menschen wurden getötet - Männer, Frauen und Kinder, und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Augenzeugen beschrieben schlimmste Gewalt an den Einwohnern der Grenzorte sowie an Besuchern des Nova-Musikfestivals - darunter grausamste Verstümmelungen und Vergewaltigungen. Viele der Terroristen dokumentierten ihre Gräueltaten selbst mit Go-Pro-Kameras und übertrugen die Vorfälle live über soziale Netzwerke. 

In Stahls Kibbuz Kfar Aza durchbrachen rund 300 Terroristen einen Sperrzaun und drangen in die Gemeinschaftssiedlung ein, die etwa drei Kilometer von der Grenze entfernt liegt. Dort gingen sie von Haus zu Haus und mordeten. 64 Einwohner des 1957 gegründeten Kibbuz‹ wurden getötet und 19 in den Gazastreifen verschleppt. 

Das lange Warten auf Hilfe

Viele Einwohner der israelischen Grenzorte waren Friedensaktivisten, die von einer Koexistenz mit den Palästinensern träumten. Stahls Tochter Ziv ist etwa Direktorin der israelischen Menschenrechtsorganisation Jesch Din, die sich gegen die israelische Besatzung in den Palästinensergebieten einsetzt. 

Die Einwohner von Kfar Aza wurden laut Stahl, der als Chemiker in einer von ihm mitgegründeten Fabrik in dem Ort arbeitet, von israelischer Seite nicht vorgewarnt. »Wir waren nicht bereit«, erzählt er. Während des Angriffs habe er den ganzen Tag über mit seinen vier Kindern telefoniert, darunter auch mit seiner in den USA lebenden Tochter. Er habe von draußen Schüsse gehört, »aber erst später verstanden, dass es Terroristen sind, die schießen, und keine Armee da ist«. 

Eine Enkelin habe sich mit einem Freund in einem Schutzraum versteckt. Der junge Mann habe bei dem Angriff von Terroristen schwere Verletzungen an beiden Händen erlitten. Sie seien dann quer durch den Kibbuz gerannt bis zum Haus ihrer Eltern. »Zehn Stunden haben sie auf Hilfe gewartet«, sagt der 82-Jährige, immer noch sichtlich empört. Zu ihm seien erst um 2.00 Uhr nachts Soldaten gekommen, um ihn aus dem umkämpften Ort zu geleiten. Zu der verspäteten Hilfe sagt er: »Wir hatten das Gefühl, dass wir verraten wurden.« Ein Nachbar fand die tote Schwiegertochter Mira in ihrem Haus. Angreifer hatten sie und beide Hunde erschossen. Stahls Sohn überlebte dagegen, weil er in einer abgelegenen Hütte übernachtet hatte. 

Empörung über Netanjahus Regierung

Stahl ist auch ein Jahr nach dem Massaker wütend auf die israelische Regierung, die bisher keine offizielle Untersuchung des Versagens eingeleitet hat. »Die Regierung hat uns erzählt, ihr seid geschützt, wir haben euch eine Mauer gebaut, man kann sie nicht überwinden«, sagt er bitter mit Blick auf die Sperranlage an der Gaza-Grenze.

»Und dann sieht man Bilder im Fernsehen, wie man mit einem primitiven Traktor den »unüberwindbaren« Zaun einfach niedermähen kann. Und wie Geländewagen über die Grenze preschen und niemand sie stoppt.« Niemand habe die Angreifer aufgehalten, dabei hätten »ein oder zwei Panzer auf dem Weg gereicht«.

Sie hätten »verhindern können, dass die Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden«, davon ist Stahl überzeugt. Die Armee sei aber nicht verfügbar gewesen, weil Truppen vorher ins Westjordanland verlegt worden seien, um dort rechtsextreme Israelis zu schützen. 

Die Fähigkeiten der seit 2007 im Gazastreifen herrschenden Hamas seien auf gefährliche Weise unterschätzt worden, sagt er. »Sie wussten genau, wohin sie gehen mussten«, so schildert er den Verlauf des Angriffs. »Sie haben wie eine echte Armee gehandelt, sie hatten genaue Informationen über den Kibbuz.«

Kritik an den Zerstörungen im Gazastreifen

Er findet es eine »Unverschämtheit«, dass Regierungschef Benjamin Netanjahu nie persönlich Verantwortung übernommen hat für das Desaster am 7. Oktober. »Er steht an der Spitze.« Mut macht ihm dagegen eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft innerhalb der Zivilbevölkerung. 

Trotz des blutigen Massakers findet Stahl, man müsse sich weiter um eine Annäherung an die Palästinenser bemühen. »Man kann keine Lösung finden, ohne zu reden.« Die schweren Zerstörungen während der Offensive im Gazastreifen findet er schrecklich. »Es sieht aus wie Rache, nicht wie ein Krieg, der sie (die Hamas) stoppen soll.«

Zu Hause wurde Deutsch gesprochen

Vor dem Krieg habe es im Kibbuz viele Verbindungen mit Einwohnern des Gazastreifens gegeben. »Als wir die Fabrik in Kfar Aza aufgebaut haben, war einer unserer ersten Kunden ein Sandalen-Hersteller in der Stadt Gaza«, erinnert der 82-Jährige sich an früher. In den 1970er Jahren sei er »hingefahren, um sicherzustellen, dass unser Plastik-Rohstoff funktioniert«.

Damals sei er noch allein und ungehindert mit dem Auto durch die ganze Stadt Gaza gefahren, bis zu der Fabrik am Meer. »Ich wurde mit offenen Armen empfangen.« Spätestens seit dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen 2005 und der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas zwei Jahre später wäre eine solche Fahrt undenkbar gewesen. Den Gazastreifen wiederzuerobern, wäre »eine Katastrophe«, sagt er. 

Gadi Stahl ist trotz allem ein optimistischer Mensch. Doch das Massaker erschüttert das Bild Israels als sicherer Hafen, in den seine Eltern vor den Nazis geflohen sind. Zu Hause wurde Deutsch gesprochen. »Meine Großmutter väterlicherseits, die bei uns wohnte, konnte gar kein Hebräisch«, erinnert er sich an seine Kindheit in Pardes Chana südlich von Haifa. »Mein Großvater hat uns deutsche Kinderlieder vorgesungen und deutsche Geschichten erzählt. Viele Kinderlieder waren auf Deutsch – wie »Fuchs, du hast die Gans gestohlen««, sagt er lächelnd. 

Seine Frau, mit der er 1968 nach Kfar Aza gezogen war, ist im Juni vergangenen Jahres gestorben - vier Monate vor dem Massaker. »In der Familie sagen wir immer, es war ein Glück, dass sie dieses Trauma nicht durchmachen musste. Eine ihrer besten Freundinnen wurde ermordet und ihre Schwiegertochter Mira.«

Rückkehr und Wiederaufbau

Trotz der schrecklichen Erlebnisse möchte er zurückgehen in den Kibbuz. Mit Beginn des Schuljahrs Anfang September seien einige Einwohner zurückgekommen in den Grenzort, obwohl immer noch sporadisch Raketen fliegen aus dem Gazastreifen. Die Rückkehr sei auch notwendig, »um unseren Feinden zu zeigen, dass wir uns erholen und wieder aufstehen«, glaubt er.

Kritisch sieht er den Bau von Ersatzhäusern für Einwohner in einiger Entfernung. »Man hätte ein neues Viertel in Kfar Aza bauen müssen.« Statt einer schnellen Renovierung habe man den Ort aber »in eine Art Museum verwandelt, um zu zeigen, wie schlimm es war«. 

Gadi Stahl hat neun Enkel und Enkelinnen. »Sie sagen, dass sie nicht wissen, ob sie hier bleiben werden«, sagt er. »Ich finde es schade.« Zum 7. Oktober sagt er: »Es wird sehr lange dauern, bis wir uns von diesem Trauma erholen.«

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