Es sind Ferien in Israel – die Zeit der Sommerlager (Kejtanot). Normalerweise verbringen die Mädchen und Jungs ihre Tage mit Surfen, Schwimmen, Fußballspielen, Tanzen oder Spielen. Nicht so in diesen Tagen, die Unbeschwertheit der schulfreien Tage ist der angespannten Nervosität des Kriegszustandes gewichen. Fast überall im Land. Denn die Raketen der Hamas dringen mittlerweile tief ins israelische Kernland ein, reichen sogar bis in den Norden.
Die Zeiten, in denen das Gebiet nördlich von Raanana von den Einheimischen augenzwinkernd als »Tal der Ahnungslosen« bezeichnet wurde, weil keine Raketen hingelangten, sind vorüber. Die Terrorgeschosse reichen bis nach Hadera, Zichron Yaakov, sogar ins Umland von Haifa – 150 Kilometer von Gaza entfernt. Mit aller Gewalt wollen die fanatischen Terroristen ihre mörderische Stärke demonstrieren.
Mehr als 250 Raketen und Mörsergranaten sind seit Dienstag auf Israel abgefeuert worden. Auch in der Nacht zum Donnerstag hielt der Beschuss an, vor allem in Beer Sheva und Aschkelon schrillte der Alarm fast ohne Unterlass. Am Donnerstag flogen zwei Langstreckenraketen auf die Metropole Tel Aviv, mindestens eine wurde vom Abwehrsystem »Iron Dome« abgefangen.
Menschenleer Ramat Hascharon, eine Viertelstunde nördlich von Tel Aviv, ist ein schickes Pflaster. An der zentralen Ussischkin-Straße reiht sich eine Nobelboutique an die andere, normalerweise geben sich die sonnenbebrillten Damen hier zu jeder Tageszeit ein Stelldichein, plaudern in den Cafés über die letzte Fashion-Week und darüber, welcher Friseur die besten Strähnchen färbt. Doch in diesen Tagen sind die Ussischkin und die angrenzenden Straßen fast menschenleer. Auch der sonst dichte Verkehr ist verschwunden. Die Menschen kehren von der Arbeit heim und verlassen ihre Häuser nicht mehr.
Margalit Lachower wohnt hier in einer Wohnung. Nach dem ersten Tag des Beschusses begann sie mit den Nachbarn, hastig den Miklat (Schutzraum) des dreistöckigen Gebäudes, der normalerweise als Abstellraum dient, zu säubern, Glühbirnen zu wechseln, Sitzgelegenheiten aufzustellen und Ähnliches. Die Mutter von zwei Söhnen hat ein ausgeglichenes Naturell, doch auch sie ist besorgt, hat Angst, dass die Situation weiter eskaliert. »Wir haben hier anderthalb Minuten Zeit, um in den Bunker zu gelangen. Panik spüre ich zwar noch keine, aber entspannt ist es hier definitiv nicht mehr.«
Ferien Vor allem für die Kinder sei die Lage extrem belastend. Natürlich versuchten alle, die Normalität aufrechtzuerhalten. Doch Sicherheit gehe in jedem Fall vor. Margalit erzählt: »Meine kleine Enkelin Alma ist im Schwimmkurs. Gestern durften sie überhaupt nicht ins Wasser. Es hätte im Notfall einfach zu lange gedauert, um alle Kleinen aus dem Becken herauszuholen und in den Schutzraum zu bringen.« Ihre andere Enkelin Elly mache gerade einen Surfkurs am Meer. »Dort hat man den Kindern erst einmal erklärt, dass sie, wenn sie im Wasser die Sirene hören, sofort an den Strand rennen und sich flach in den Sand legen sollen. Oder am Besten in den Toiletten verkriechen. Überall wird die Zeit bis zum Miklat gestoppt. Fröhliche Ferien sehen anders aus.«
Derweil sind alle öffentlichen Schutzräume in Tel Aviv und Umgebung, in Jerusalem, Beer Sheva und anderen Gemeinden geöffnet worden, Kejtanot und Kindergärten ohne sichere Räumlichkeiten verlegt worden.
Auch bei den Kleinsten wird jetzt morgens in der Gesprächsrunde nicht vom vergangenen Tag erzählt, sondern erst einmal der Gang in den Schutzraum geübt. Wie in der Gruppe mit Namen Chawazellet. Außerdem organisierte der Veranstalter Jula prompt eine Sammlung für die Indoorspielplätze in der Nähe von Gaza. »Die Leute sind dort regelrecht eingesperrt. Die Kinder sitzen seit Wochen in geschlossenen Räumen und haben oft nicht genug Spielsachen«, erklärt die Leiterin von Jula die Aktion. »Obwohl ja auch wir beschossen werden, ist die Lage bei uns doch wesentlich einfacher. Deshalb haben wir die Eltern aufgerufen, uns Spielzeug zu bringen, das wir noch vor dem Wochenende nach Sderot und in die anderen betroffenen Gemeinden bringen werden.«
Hilfe Auch die Hilfsorganisation Leket will sich nicht von Geschossen von ihrer täglichen Arbeit abbringen lassen. »Wir machen weiter und sammeln nach wie vor das restliche Obst und Gemüse auf den Feldern und Plantagen des Landes«, heißt es in einer Erklärung. »Die Bedürftigen brauchen es dringend, und wir sind da – momentan vor allem im belagerten Süden.«
Ute Pomer lebt mit ihrer Familie im beschaulichen Örtchen Pardes Chana, etwa 130 Kilometer nördlich des Gazastreifens. Am Donnerstag hätte eigentlich der Freund ihrer ältesten Tochter aus Deutschland zu Besuch kommen sollen. Seit Monaten war alles geplant, die Ausflüge organisiert, die Vorfreude auf beiden Seiten riesengroß. Doch dann kamen die Raketen.
Ein paar Tage habe sie gedacht, dass die Situation in Israel zwar derzeit »nicht so toll«, aber doch akzeptabel sei. Bis die Sirenen auch bei ihr schrillten und sie einen Tag lang mit ihrer völlig verängstigten Tochter im Schutzraum sitzen musste. »Gestern ist eine Rakete in Hadera runtergegangen, heute eine in Zichron Yaakov und eine sogar am Strand Habonim. Das war einfach zu viel. Wir haben den Eltern des Jungen empfohlen, den Flug zu stornieren.« Es sei keine leichte Entscheidung gewesen, doch nachdem die Tochter selbst sagte, sie habe große Angst, sich draußen zu bewegen – »denn was passiert, wenn wir spazieren gehen und plötzlich der Alarm beginnt?« –, buchten ihre Eltern ihr ein Ticket nach Deutschland zu ihrem Freund.
Trotz Bevor es aber losgeht, muss die 17-Jährige noch eine Mathearbeit schreiben. Im Bunker. Die Mutter schüttelt den Kopf: »Ich frage mich wirklich, wie die Kinder sich auf Mathematik konzentrieren sollen, wenn draußen die Hölle los ist.«
In den nächsten Tagen wird Utes Mann auf Geschäftsreise in die USA fliegen, dann bleibt sie allein zurück. Ob sie nicht Angst hat? »Komischerweise nicht. Ich bin eigentlich eher stinksauer auf die Situation«, sagt sie. Zwar habe sie die ganze Zeit das Radio an, höre aber nicht immer zu, weil sich ständig alles wiederholt. Den Fernseher schaltet sie nicht an, das wäre einfach zu viel. »Meine Schwiegermutter tut das und muss im Anschluss jedes Mal eine Beruhigungstablette nehmen. Das brauche ich wirklich nicht.«
Eins aber braucht sie dringend, wenn die Raketen fliegen: Ablenkung. »Ich war froh, dass ich das Halbfinale im Fußball anschauen konnte. Wir haben bei einer Freundin auf der Terrasse gesessen und bei jedem Tor für Deutschland lauthals gejubelt.« Es sei wie eine Trotzreaktion auf die Lage hier gewesen. »Nach dem Motto: Fuck the rockets, wir lassen uns das Leben nicht verderben!«