Interview

»Es gibt einen Sieg, aber er ist nicht vollständig«

Der Analyst Yossi Torfstein über die militärische Stärke der Hamas im Gazastreifen und die Frage, ob Israels Kriegsziele in den vergangenen Monaten erreicht wurden

von Ayala Goldmann  29.01.2025 17:06 Uhr Aktualisiert

Yossi Torfstein Foto: privat

Der Analyst Yossi Torfstein über die militärische Stärke der Hamas im Gazastreifen und die Frage, ob Israels Kriegsziele in den vergangenen Monaten erreicht wurden

von Ayala Goldmann  29.01.2025 17:06 Uhr Aktualisiert

Herr Torfstein, es gibt widersprüchliche Informationen über die Stärke der Hamas im Gazastreifen. Einerseits heißt es, sie sei nach 15 Monaten des Krieges militärisch geschwächt. Andererseits berichten der israelische TV-Sender n12 und andere Medien, die Terrororganisation habe in den vergangenen Monaten Tausende von neuen Kämpfern rekrutiert. Was ist richtig?
Beginnen wir mit den Massakern vom 7. Oktober 2023, mit denen die Hamas ihre islamistisch-nationale Ideologie verwirklichen wollte. Wegen der Verluste, die Israel auch der palästinensischen Zivilbevölkerung im darauffolgenden Krieg zugefügt hat, und der schweren Schäden im Gazastreifen hat das Image der Hamas gelitten. Allerdings nur in Gaza, während es im Westjordanland sogar gestärkt wurde. Dort gab es in jüngster Zeit einige Terroranschläge, und es könnten in Zukunft noch mehr werden. Im Gazastreifen möchte die Hamas der einzige Herrscher bleiben, wenn Israel sich zurückzieht. Daher ist sie an einem langfristigen Waffenstillstand interessiert, um sich wiederzubewaffnen und junge Männer zu rekrutieren.

Damit hat die Hamas doch längst schon wieder angefangen …
Was ich meine ist, dass die Hamas an mehr Waffen kommen will. Ihre Kämpfer machen sich jetzt auf die Suche nach den Verstecken, in denen sie Waffenvorräte gebunkert haben und die von der israelischen Armee noch nicht entdeckt wurden. Das Ziel der Hamas ist außerdem, dass der Gazastreifen wiederaufgebaut wird, während sie selbst an der Macht bleiben will. In Gaza gibt es viel Kritik an der Hamas – an ihrer harten Herrschaft vor dem 7. Oktober und auch ihrem Vorgehen während und nach dem 7. Oktober. Viele Palästinenser sind verzweifelt über die große Zerstörung und das, was ihnen angetan wurde.

Wo hören Sie diese Kritik? Von Menschen, mit denen Sie in Kontakt sind, oder aus den Medien?
Sowohl als auch. Ich lese viele arabische Zeitungen und werte Quellen aus. Israel hat der Hamas im Krieg einen schweren Schlag versetzt ….

… trotzdem schließen sich junge Männer in Gaza nach so vielen Kriegsmonaten der Hamas an. Warum?
Aus nationalen, religiösen und vor allem und vor allem aus praktischen Gründen. Die Versorgungslage in Gaza ist katastrophal. Teilweise herrschte dort wirklich Hunger. Die Hamas zahlt ihren Kämpfern Gehälter und stellt ihnen Lebensmittel und andere Güter zur Verfügung. Sie stiehlt den größten Teil der Hilfslieferungen, die in den Gazastreifen geschickt werden. In den Anfangsmonaten des Krieges hat Israel nicht genügend Lebensmittellieferungen zugelassen, weil man nicht wollte, dass sie der Hamas in die Hände fallen. Laut dem jetzigen Abkommen zwischen Israel und der Hamas sollen etwa 600 Lastwagen mit Nahrung und anderen wichtigen Gütern pro Tag in den Gazastreifen kommen, zu Anfang des Krieges waren es teilweise nur etwa 150, später 300 Lastwagen pro Tag. Das war nicht genug. Aber es gibt auch ideologische Gründe, warum sich junge Männer der Hamas anschließen.

Der Sender n12 berichtet, die meisten Kämpfer der Hamas seien derzeit militärisch nicht auf dem »Niveau« der sogenannten Elitetruppe Nukba, die die Massaker vom 7. Oktober an 1200 israelischen Zivilisten verübt hat.
Das stimmt teilweise. Tausende von Mitgliedern der Nukba wurden im Krieg gegen Israel getötet, aber es sind auch noch Tausende Nukba-Kämpfer am Leben. Die Taktik der Terroristen war es zuletzt, als Gruppen plötzlich aus den Tunneln aufzutauchen, den israelischen Soldaten aufzulauern und sie zu beschießen, und andererseits Sprengfallen in Häuser zu installieren. Und nun hat die Hamas versucht, ihre Stärke zu demonstrieren, als die drei ersten israelischen Geiseln freigelassen wurden. Da hat sie massive Präsenz auf dem Platz in Gaza gezeigt. Am vergangenen Wochenende hat sich diese Inszenierung wiederholt, als die vier israelischen Soldatinnen freikamen – eine Inszenierung von Herrschaft.

Aber die Bilder waren offenbar manipuliert. Es waren nicht so viele Hamas-Kämpfer anwesend, wie es aussah. Ist die Hamas nicht wirklich so stark, wie sie vorgibt? Schüchtert sie ihre Kritiker durch Gewalt so massiv ein, dass keiner wagt, sich offen zu äußern?
Es gab einige Fälle, in denen die Hamas auf palästinensische Zivilisten geschossen hat. Zum Beispiel, als die israelische Armee der Bevölkerung zu Beginn des Krieges befohlen hat, sich aus dem Norden in den Süden des Gazastreifens zu begeben. Die Hamas wollte, dass die Bevölkerung im Norden bleibt. Sie hat offenbar auch auf Leute geschossen, die zu viel Kritik geäußert haben. Aber manche Palästinenser haben trotzdem im Fernsehen offen über die Situation gesprochen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat als Kriegsziel unter anderem den »vollständigen Sieg« über die Hamas definiert.
Es gibt einen Sieg, aber er ist nicht vollständig. Die Hamas wurde schwer geschlagen, aber sie ist trotzdem weiterhin die entscheidende bewaffnete palästinensische Kraft im Gazastreifen. Außerdem gibt es noch den Islamischen Dschihad und einige andere kleine Gruppen, die sich an den Massakern des 7. Oktobers beteiligt haben. Was ein weiteres Kriegsziel Israels angeht: Auch die Geiseln konnten bisher nicht alle befreit werden, und es könnte sein, dass die Regierung von Benjamin Netanjahu am Ende ist, bevor die zweite und dritte Phase des Abkommens mit der Hamas überhaupt erreicht ist. Der Erfolg Israels in diesem Krieg ist – obwohl das gar nicht ursprünglich als Kriegsziel definiert wurde -, dass das Abschreckungspotenzial gegen die Hamas, die Hisbollah und die gesamte arabische Welt wiederhergestellt wurde.

Ein wichtiges Kriegsziel war, dass die Hamas die Massaker vom 7. Oktober nicht wiederholen kann. Die Terrororganisation fordert einen andauernden Waffenstillstand, aber will sie ihn wirklich einhalten?
Für den Zeitraum, den wir jetzt überschauen können, ist die Hamas an einem dauerhaften Waffenstillstand interessiert. Sie wollen ihre Herrschaft stärken und den Gazastreifen mit arabischer und internationaler Finanzierung wieder aufbauen. Und sie wollen diesen Erfolg für sich verbuchen.

Aber es kann doch nicht sein, dass die Hamas ihre Herrschaft mit internationaler Unterstützung erneut zementiert.
Es gibt mehrere Möglichkeiten für den »Tag danach«, über den die israelische Regierung bisher nicht sprechen wollte. Eine Möglichkeit wäre, dass sich die palästinensische Autonomiebehörde mit Unterstützung arabischer Staaten an der Verwaltung des Gazastreifens beteiligt. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Einheitsregierung aus Hamas und Fatah. Beides ist eher unrealistisch.

Es gibt also keine Lösung.
Moment. Weitere Möglichkeiten wären, Mohammed Dahlan, den ehemaligen Sicherheitschef der Fatah in Gaza, oder lokale Clans einzubeziehen. Beides scheint mir nicht vielversprechend. Aber Ägypten hat vorgeschlagen, eine Art technisches Komitee aus Fachleuten einzusetzen. Die Hamas ist damit sogar einverstanden, will aber die Kontrolle im Gazastreifen behalten.

Und dazu gibt es keine Alternative? Weil man die Hamas nicht vollständig besiegen kann?
Israel hat die Hamas besiegt, aber nicht vernichtet. Das ist ein wichtiger Unterschied. Wenn tatsächlich ein technisches Komitee mit Unterstützung von Ägypten, Katar, anderer arabischer Staaten und mit internationalen Finanzhilfen eingesetzt wird, könnte sich die Situation trotz der Hamas positiv entwickeln, denn sie ist bei vielen Palästinensern im Gazastreifen nach wie vor nicht beliebt. Die Leute haben einfach die Nase voll davon, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen ist. Das Problem ist allerdings, dass manche in der israelischen Regierung den Krieg fortführen wollen – nicht nur der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich, sondern vielleicht auch Netanjahu selbst.

Man sollte also geduldig sein und darauf setzen, dass weniger junge Männer sich der Hamas anschließen wollen, wenn die wirtschaftliche Situation sich verbessert?
Ja, darauf würde ich mehr oder weniger setzen. Denn wenn der Wiederaufbau des Gazastreifens beginnt, wird das große Leid dort aufhören. Etwa die Hälfte der Krankenhäuser waren dort zuletzt nicht mehr funktionsfähig, es mangelte an Nahrung, an Medikamenten, an allem.

Nun hat sich Donald Trump zu Wort gemeldet und vorgeschlagen, anderthalb Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen in Jordanien und Ägypten anzusiedeln – was aus beiden Ländern schon zurückgewiesen wurde. Was hat den US-Präsidenten Ihrer Ansicht nach zu diesem Vorschlag bewogen?
Das ist eben Trump. Er betrachtet den Gazastreifen aus der Sicht eines Investors, der sich mit Gebäuden beschäftigt, ohne die Situation vor Ort zu kennen. Trump denkt, man müsste die Bevölkerung evakuieren, um die zerstörten Gebäude wiederaufzubauen. Natürlich sind Jordanien und Ägypten dagegen. In Jordanien sind schon jetzt etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung Palästinenser, es gibt dort etwa eine Million Flüchtlinge aus dem Irak und auch etliche aus Syrien, und die wirtschaftliche Situation ist nicht gut. Andererseits ist Jordanien auf Wirtschaftshilfe aus den USA angewiesen.

Und Ägypten?
In Ägypten ist die Situation komplizierter, dort leben derzeit schon 100.000 Palästinenser, die aus Gaza geflohen sind. Die meisten von ihnen leben im Norden der Sinai-Halbinsel und dürfen sich nicht von dort wegbewegen. Die ägyptische Regierung hat im Sinai schon ein Problem mit IS-Kämpfern und will keineswegs noch eine Million Menschen aus Gaza aufnehmen. Auch wegen der Hamas, die aus der Bewegung der Muslim-Brüder hervorging, durch die sich das ägyptische Regime bedroht fühlt. Ebenso wie Jordanien ist auch Ägypten von amerikanischer Wirtschaftshilfe abhängig, aber die Regierung muss Rücksicht auf die eigene Bevölkerung nehmen, und Palästinenser – vor allem aus Gaza – sind in Ägypten sehr unbeliebt. Als man Ägypten während des Oslo-Friedensprozesses einmal vorgeschlagen hat, den Gazastreifen zurückzubekommen, haben die Ägypter dankend abgelehnt.

Wo sehen Sie den Gazastreifen in zehn Jahren? Als Israel das Gebiet 1967 eroberte, lebten dort etwa 400.000 Menschen. Heute sind es 2,3 Millionen.
Das ist eine schwierige Frage. Das schnelle Bevölkerungswachstum auf einem so kleinen Gebiet ist eine riesige Herausforderung. Aber ich hoffe, dass tatsächlich ein technisches Komitee mit internationaler Unterstützung den Gazastreifen verwalten und die wirtschaftliche Entwicklung fördern wird. Ich hoffe, dass Industrie, Unternehmen und soziale Projekte entstehen, die der Bevölkerung wirklich nützen und auch die gesellschaftliche Entwicklung voranbringen. Aber ich bin kein Prophet und kann die Zukunft nicht voraussehen.

Mit dem politischen Analysten für Nahost-Fragen sprach Ayala Goldmann. Yossi Torfstein war Journalist und Palästinenser-Korrespondent bei den Zeitungen »Haaretz«,«Davar« und »Makor Rishon« sowie stellvertretender Botschafter Israels in Südafrika.

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