Für Ilan Mengistu mischte sich an diesem Tag »Freude mit Trauer«. Er zeigte sich überwältigt davon, nach achteinhalb Jahren der Ungewissheit wieder ein vermeintliches Lebenszeichen seines Bruders erhalten zu haben. »Das ist der Moment, alles zu tun, meinen Bruder gesund und wohlbehalten zurückzubringen«, appellierte er am Montagabend bei einer improvisierten Pressekonferenz vor dem Wohnhaus der Familie in der Küstenstadt Aschkelon an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und die Mitglieder der Regierung.
Ilan Mengistus Bruder Avera hatte 2014 am Strand von Zikim die Grenze nach Gaza überquert und war dort anscheinend in die Hände der Hamas geraten. Nach Angaben seiner Familie leidet Mengistu an psychischen Problemen. Die Kassam-Brigaden, eine Art militärischer Arm der palästinensischen Terrororganisation, veröffentlichte nun ein Video, auf dem der Israeli zu sehen sein soll. »Ich bin der Gefangene Avera Mengistu. Wie lange werde ich noch hier sein?«, sagt der Mann auf Hebräisch in die Kamera und fügt hinzu: »Wo ist der Staat Israel?«
»versagen« Nach Angaben der Terroristen sei das Video an Israels vormaligen Generalstabschef Aviv Kochavi gerichtet, dessen Amtszeit am 31. Dezember abgelaufen ist. Das Video ist in Arabisch und Hebräisch untertitelt. Im Text der Hamas hieß es unter anderem, dass das Festsetzen von Mengistu die Folge des »Versagens des scheidenden Stabschefs Kochavi und seiner Lügen gegenüber dem Volk und der Regierung mit eingebildeten und wahnhaften Erfolgen« sei. »Der neue Stabschef Herzi Halevi sollte sich darauf vorbereiten, die Last dieses Versagens und seiner Folgen zu tragen«, so das Propagandavideo.
Der Israeli Mengistu soll an psychischen Problemen leiden.
Unklar blieb, wann die Aufnahmen des äthiopischstämmigen Israelis entstanden sind. Der Bruder des Gefangenen meinte im israelischen Fernsehsender Channel 12, er könne nicht sicher sagen, ob es sich wirklich um seinen Bruder handele. Auch Agurnesh Mengistu, Averas Mutter, äußerte sich zunächst zurückhaltend, ergänzte aber laut Channel 12 auf Amharisch: »Es ist sein Gesicht, aber seine Stimme klingt anders.« Weiter sagte sie: »Ich möchte, dass man mir erlaubt, meinen Sohn zu sehen und ihm in die Augen zu schauen.«
Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten teilte am Montagabend mit: »Der Staat Israel setzt alle seine Ressourcen ein, um seine vermissten und gefangen gehaltenen Söhne in ihre Heimat zurückzubringen.« Ministerpräsident Netanjahu sagte am Dienstag laut »Times of Israel«, Mengistu sei »am Leben«. Ein Armeesprecher erklärte, man untersuche das Bildmaterial.
austausch Seit Jahren laufen zwischen Israel und der Hamas Bemühungen um eine Austausch-Vereinbarung. Dabei geht es um die Übergabe der sterblichen Überreste von zwei Soldaten aus dem Gaza-Krieg 2014 sowie die Freilassung Mengistus und eines Mannes, der 2015 die Grenze zum Gazastreifen überquerte. Im Sommer veröffentlichte die Hamas ein Video mit diesem Mann. Der israelische Araber war darin in einem Bett mit Sauerstoffmaske zu sehen. Die Aufnahmen sorgten damals für Empörung.
Zur Strategie der Terroristen gehört es, durch Videos Druck auszuüben.
Die aktuelle Hamas-Propaganda erinnert an den Fall Gilad Schalit. Der israelische Soldat war 2006 von der Hamas auf israelischem Gebiet entführt und erst gut fünf Jahre später im Rahmen eines groß angelegten Gefangenenaustauschs wieder freigelassen worden. Zur Strategie der Terroristen gehörte es schon damals, durch Videos des Gefangenen psychologischen Druck auf die Angehörigen und somit mittelbar auf die israelische Regierung auszuüben.
Im Fall des jungen Soldaten gab Israel am Ende nach und tauschte 1027 Terroristen und Terrorunterstützer gegen Schalit aus. Ob allerdings der Fall Mengistu Israel nochmals zu einem solch überproportionalen Zugeständnis wird bringen können, ist äußerst fraglich – insbesondere aufgrund der deutlich konservativeren Ausrichtung der neuen Regierung.
Dass die Hamas den neuen Generalstabschef direkt adressiert, scheint allerdings ein Zeichen dafür zu sein, dass man den Druck auf Israel erhöhen möchte, solange sich der Fall Mengistu aus Sicht der Terrororganisation noch in Gegenleistungen ummünzen lässt. Und dafür wiederum braucht es Öffentlichkeit. Wie und ob Israel reagiert, bleibt zu diesem Zeitpunkt Spekulation.
zeitpunkt Sollte das Video echt sein, wofür sich die Anzeichen mehren, wäre der Zeitpunkt der Veröffentlichung psychologisch nicht ungeschickt gewählt. Das neue Kabinett ist noch dabei, sich zu finden, da könnte der Umgang mit einer israelischen Geisel in den Händen der Hamas durchaus zu Scharmützeln innerhalb der Regierung führen.
Die aktuelle Hamas-Propaganda erinnert an den Fall Gilad Schalit.
Der gerade aus dem Amt geschiedene frühere Premierminister und jetzige israelische Oppositionschef Yair Lapid äußerte sich am Dienstagmorgen zu dem Fall. Ein Gefangenenaustausch wie im Fall Schalit stelle eingedenk der Tatsache, dass es sich um zwei in Gaza festgehaltene Israelis und die sterblichen Überreste zweier Soldaten handle, »ein zu hohes Risiko dar«. Auch im Fall Schalit sei das Risiko für Israel viel zu hoch gewesen, so Lapid gegenüber dem Radiosender Kann Reshet Bet.
einschätzung Der Sprecher der israelischen Armee, Brigadegeneral Ran Kochav, sagte dem Radiosender 103 FM: »Wir haben eine Einschätzung – lassen Sie es mich so formulieren, wir nehmen an, dass die Verlässlichkeit der Quelle plausibel ist.« Die Hamas, so Kochav weiter, missbrauche »in zynischer und unangemessener Weise – die zudem aus meiner Sicht illegal, unmoralisch und unmenschlich ist – die Tatsache, dass sie israelische Staatsbürger illegal und gegen internationales Recht gefangen hält«.
Hamas-Sprecher Hazem Kazem reagierte nicht auf die israelischen Vorwürfe. Dem Hamas-Sender Radio Al Shams sagte er, das Video sei authentisch und vor einigen Wochen aufgenommen worden. Israel werde seine Gefangenen nicht wiedersehen, bis es einen »angemessenen« Austausch für palästinensische Gefangene gebe. Laut israelischen Medien sei die Hamas an der Aufnahme von Verhandlungen darüber interessiert.