Kibbuz Beʼeri

Epizentrum des Schreckens

»Was ist hier geschehen? Ein Pogrom wie in Litauen?«, fragt eine Bewohnerin des Kibbuz Be’eri. Die Terroristen ermordeten Babys, Kinder, Ältere und verwüsteten den Kibbuz. Sicherheitskräfte kamen nach den Angriffen. Foto: Flash 90

Er ist das Epizentrum des Horrors – der Kibbuz Be’eri. Die kleine Gemeinde im Süden Israels an der Grenze zum Gazastreifen steht für das Unvorstellbare. Kleine Mädchen und Jungen, Babys, Väter und Mütter, Großeltern: abgeschlachtet, in ihren Häusern verbrannt. Sie wurden gedemütigt, misshandelt, gekidnappt. Von Terroristen der Hamas.

Seit dem 9. Oktober hat das »Massaker von Be’eri« einen Wikipedia-Eintrag und steht für furchtbarste Gräueltaten an israelischen Zivilisten durch die Terrororganisation. Zwei Tage zuvor hatten schätzungsweise 90 bewaffnete Hamas-Terroristen den Kibbuz überfallen und mindestens 108 Menschen auf brutalste Weise massakriert. Die Mörder filmten sich dabei gegenseitig, wie sie Männer, Frauen und Kinder, die um Gnade flehten, lachend töteten, entführte Gefangene misshandelten und verspotteten, Häuser mit kompletten Familien darin in Brand steckten, die Leichen ihrer Opfer verstümmelten und auch Haustiere folterten.

Und es ist nur einer von vielen Orten im Süden Israels, die am 7. Oktober an einem der dunkelsten Tage in der Geschichte des Staates Israel aufwachten, als rund 1500 palästinensische Terroristen das Land attackierten und ein Blutbad von unvorstellbarem Ausmaß anrichteten. Die Hamas hatte am frühen Samstagmorgen den Grenzzaun zwischen der Enklave und Israel mit einem Bulldozer eingerissen. Zur selben Zeit kamen extremistische Palästinenser mit Booten und motorisierten Fluggeräten über das Mittelmeer und aus der Luft. Sie attackierten zivile Gemeinden, Armeebasen und Polizeistationen völlig überraschend.

1200 Todesopfer, 3000 Verletzte und 150 Geiseln

Bis Mittwochmorgen gab es auf israelischer Seite mehr als 1200 bestätigte Todesopfer, fast 3000 Verletzte und um die 150 Menschen, von denen angenommen wird, dass sie in den Gazastreifen verschleppt wurden. Darunter Kleinkinder und Babys, alte und behinderte Menschen. Es sind wahrscheinlich größtenteils israelische Zivilisten, Soldatinnen und Soldaten, doch auch Ausländer. Neben den Morden und Entführungen fliegen zudem seit Samstagmorgen nahezu pausenlos Raketen auf den jüdischen Staat – insgesamt mehr als 5000.

Eine der Vermissten ist Amit Man, eine 25-Jährige, die in der Kibbuz-Klinik arbeitete. Ihr letztes Lebenszeichen war eine Textnachricht an ihre Schwester Haviva. Sie schrieb, dass Terroristen vor der Tür stehen und dass die Familie stark sein soll, falls ihr etwas passiert. Amit habe ihre Schwester mehrfach gefragt, wo die Armee sei und ob sie komme, um Be’eri zu befreien. »Seitdem befinden wir uns in einer unglaublichen Schleife aus Schmerz, Unsicherheit und Hilflosigkeit«, sagte Haviva Man im Radio.

Berichten zufolge seien Mitglieder der Spezialeinheit »Jechidat Schaldag« per Hubschrauber nach Be’eri gekommen. Doch offenbar waren sie in der Unterzahl. In palästinensischen Videos wurden Leichen von Soldaten in Kampfausrüstung gezeigt, die am Eingang des Kibbuz liegen. Dutzende Überlebende aus Be’eri, von denen sich viele während des Angriffs in Büschen oder Schränken versteckten, sind seit der Evakuierung des Kibbuz in einem Hotel in der Nähe des Toten Meeres untergebracht und erhalten dort psychologische Betreuung.

»Ich habe das Gefühl, dass der Staat Israel aufgehört hat zu existieren.«

Amit Halevi, Leiter von Be’eri

Viele berichten über immense Verlassenheitsgefühle und darüber, dass ihre Überzeugung, die israelische Armee und Regierung werden sie beschützen, zerstört sei. »Ich habe das Gefühl, dass der Staat Israel aufgehört hat zu existieren«, fasste es der Leiter von Be’eri, Amit Halevi, zusammen. »Was ist hier geschehen? Ein Pogrom wie in Litauen?«

Bei einem Rave nicht weit vom Kibbuz entfernt hatten Tausende das Ende der Sukkotwoche gefeiert, durch die Nacht getanzt und gelacht. Bis die Mörder kamen. Rettungskräfte berichteten anschließend von einem »Schlachtfeld«, als sie die Leichen von mindestens 260 überwiegend jungen Leuten bergen mussten. Die Terroristen veranstalteten eine Jagd und erschossen sie beim Weglaufen. Junge Frauen wurden vor den Augen ihrer Freunde vergewaltigt, einige, nachdem sie getötet worden waren. In sozialen Medien verbreitete die Hamas Videos, die jegliche Humanität vermissen lassen und an Grausamkeit nicht zu übertreffen sind.

Mobilisierung von 300.000 Reservisten

Mittlerweile mobilisierte die israelische Armee 300.000 Reservisten für Vergeltungsangriffe im Gazastreifen. Es sei die größte Mobilisierung in der israelischen Geschichte in derart kurzer Zeit, wie ein Armeesprecher mitteilte. »Israel befindet sich im Krieg«, ließ Premierminister Benjamin Netanjahu keinen Zweifel offen. Die Operation heißt »Eiserne Schwerter«. Derzeit beschießt die Luftwaffe Ziele der Hamas in der Enklave, doch laut Experten deutet alles auf eine Bodenoffensive hin.

»Die Hamas wird verstehen, dass sie mit ihrem Angriff einen Fehler historischen Ausmaßes begangen hat. Wir werden einen Preis verlangen, der ihnen und den anderen Feinden Israels noch Jahrzehnte in Erinnerung bleiben wird«, erklärte Netanjahu. »Die grausamen Angriffe, die die Hamas gegen unschuldige Israelis verübte, sind nicht zu fassen.

Terroristen fesselten Kinder, verbrannten und richteten sie hin. Sie sind Barbaren. Hamas ist der ›Islamische Staat‹. Und so wie sich die Kräfte der Zivilisation zusammengeschlossen haben, um den Islamischen Staat zu besiegen, müssen die Kräfte der Zivilisation Israel beim Sieg über die Hamas unterstützen.« Netanjahu dankte US-Präsident Joe Biden für seine uneingeschränkte Unterstützung und Anführern auf der ganzen Welt, die heute an der Seite Israels stehen.

Auch in anderen Gemeinden spielte sich Grauenvolles ab. In Re’im schrieb ein Terrorist mit Lippenstift an die Wand: »Al Kassam ermordet keine kleinen Kinder.« Die Frau, der der Lippenstift gehörte, hatte er kurz zuvor erschossen. Ihren Lebensgefährten auch. Vor den Augen der zwei kleinen Kinder, deren Vater und Stiefmutter die beiden waren. Stunden mussten sie neben den Leichen verharren, bis ein Nachbar sie rettete. Während dieser Zeit waren sie am Telefon mit ihrer Mutter Reut Karp, die im Zentrum lebt. Völlig verzweifelt, ganz nah und doch unerreichbar.

»Drei Stunden lang war ich mit meiner Tochter Daria am Telefon. Ich versuchte, sie zu beruhigen, und atmete gemeinsam mit ihr«, erzählt die Mutter am Sonntag. Ihre Tochter habe gehört, dass noch immer Männer im Haus seien. »Ich beschwor sie, leise zu sein. Doch wir hielten die Leitung die ganze Zeit offen. Ich in Yehud und Daria im belagerten Haus.« Bis ihr Schutzengel gekommen sei, der Nachbar Golan Spaton. Er rannte ins Haus und blieb mit ihnen dort für weitere neun Stunden. »Golan riskierte sein Leben für meine Kinder.«

»Wir wollen unsere Kinder zurück, unsere Familienmitglieder.«

Uri David

Als er gefühlt habe, dass es etwas sicherer war, trug er die Kinder durch das Fenster und flüchtete in den Sicherheitsraum seines eigenen Hauses, wo seine Frau und er sich mit ihnen versteckten, bis die Armee eintraf.

Der Horror, den die Angehörigen der verschleppten und getöteten Israelis derzeit durchleben, ist kaum in Worte zu fassen. Verzweifelte Menschen brechen zusammen, betteln um Informationen über ihre Liebsten und haben Sorge, dass sie sie vielleicht niemals wiedersehen. Mittlerweile haben Polizei, Sozialministerium und das Heimatfront-Kommando ein Zentrum in der Nähe des Ben-Gurion-Flughafens eröffnet, an das sich Angehörige wenden können, die Familienmitglieder vermissen. Sie sind aufgerufen, Fotos und Gegenstände, von denen DNA produziert werden kann, mitzubringen. Eine Hotline mit der Nummer 118 wurde ebenfalls eingerichtet.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der Familienangehörigen vermisster Israelis forderten die Familien die Regierung auf, ihnen Antworten und aktuelle Informationen über ihre Angehörigen zu geben. »Unser oberstes Ziel ist es, unsere Familienmitglieder, die Gefangenen, zurückzubringen«, sagte Uri David, der seine beiden Töchter vermisst, unter Tränen. Die aktuelle Situation sei unglaublich. »Es ist unmöglich zu verstehen. Wir fordern von der Regierung Antworten. Wir wissen, dass nicht alle zufriedenstellende Antworten erhalten werden«, fügt er hinzu, während die Eltern um ihn herum ebenfalls zu weinen beginnen. »Wir wollen unsere Kinder zurück, unsere Familienmitglieder.«

»Dies ist unser 9/11«

Ein Sprecher der Familien, Josh Hantman, der auch Armeereservist ist, betonte, dass die Angehörigen die Geschichten »über das Allerschlimmste, was Menschen überhaupt geschehen kann, in die ganze Welt bringen wollen«. Die derzeitige Lage beschreibt er als »völliges Chaos«. Man müsse sich vorstellen, dass immer noch Tote geborgen werden. »Die Zahl an Zivilisten, die ermordet wurden oder vermisst sind, habe es in Israels Geschichte noch nie gegeben. Es war so, als wäre die gesamte Intifada an einem Tag passiert. Dies ist unser 9/11.« Das Grundvertrauen in die Sicherheit, die Armee und Regierung bieten sollten, sei untergraben worden, meint Hantman.

Am Dienstag besuchte Präsident Isaac Herzog Angehörige. »Ich traf diejenigen, die das Schicksal ihrer Lieben nicht kennen, und diejenigen, die wissen, dass sie in den Händen eines grausamen und brutalen Feindes sind. Es war ein schwieriges und schmerzhaftes Treffen, aber trotzdem konnten wir den starken, erstaunlichen Geist der Familien – und der israelischen Gesellschaft als Ganzes – in voller Kraft erleben.«

Die Hamas drohte mittlerweile, für jeden Vergeltungsangriff eine zivile Geisel hinzurichten. Sie hatte auch einen Gefangenenaustausch gefordert, in dem sie die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinenserinnen in Israel für die Übergabe von älteren entführten Israelinnen fordert.

»Die volle Verantwortung liegt bei den barbarischen Mördern der Hamas und des Islamischen Dschihad«, führte Präsident Herzog aus. »Den Entführten darf kein Haar gekrümmt werden. Und die gesamte internationale Gemeinschaft muss sich der entschiedenen Forderung nach der bedingungslosen und sofortigen Rückkehr unserer Töchter und Söhne – darunter auch Bürger vieler anderer Länder – anschließen. Dies ist eine grundlegende und verbindliche humanitäre und moralische Pflicht.«

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