Es ist die Einsamkeit, unter der sie am meisten leiden. »Ein Viertel der 200.000 Holocaust-Überlebenden in Israel ist völlig allein.« Jay Shultz konnte kaum glauben, was er da las. »Es berührte mich zutiefst, ich konnte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.« Der Zeitungsbericht ließ den Einwanderer aus New York nicht mehr los. Ohne auf die Hilfe von Sponsoren zu warten, gründete Shultz spontan »Adopt-A-Safta« (Adoptiere eine Großmutter), eine Organisation, die Bekanntschaften zwischen jungen Einwanderern und Überlebenden der Schoa vermittelt. Er ist überzeugt: »Man kann auch ohne großes Geld viel Gutes tun.«
Voller Enthusiasmus erzählt Shultz von seiner persönlichen Inspiration: »Ich selbst bin ein Enkel von Überlebenden aus Deutschland und Polen. Das hat einen großen Teil meiner jüdischen Identität geprägt.« Als er vor sechs Jahren Alija machte, hatte er keine Familie in Israel, fand dann aber doch eine Angehörige, eine entfernte Cousine seines Großvaters in Haifa. Er kannte die ältere Dame Csilla Dunkleman nicht, hatte in den USA nie von ihr gehört. Dennoch begann Shultz, sie zu besuchen, und rief regelmäßig an, um »Schabbat Schalom« und »Chag Sameach« zu wünschen.
»Sie wurde meine adoptierte Safta, kochte für mich und erzählte mir von Teilen der Familie, die ich nie kennengelernt hatte. Leider ist sie vor zwei Jahren gestorben, doch es hat mich glücklich gemacht, in Israel eine Safta zu haben.« Später erfuhr Shultz von ihrem Sohn, der in Kanada lebt, dass die Besuche auch Csilla viel Freude bereitet haben. »Es ist eine wundervolle Erinnerung.« Und war der Beginn von Shultz’ Freiwilligen-Aktion. »Die jungen Leute möchten etwas Bedeutungsvolles zur Gesellschaft in Israel beitragen; die alten Menschen brauchen Zuwendung und Wärme.« Hilfsbereitschaft, so Shultz, sei fest in der jüdischen Tradition verankert und müsse manchmal nur aktiviert werden.
Statistik Die traurige Statistik von 2012 zeigt, dass die meisten Schoa-Überlebenden sich einsam fühlen. Ein Viertel ist arm, um die 50.000 benötigen stetige finanzielle Unterstützung, die jedoch oft nicht einmal für das Nötigste reicht. 12.000 Menschen haben kein Geld, um ihre Wohnung zu heizen. Die Zahlen stammen von der »Foundation for the benefit of Holocaust victims in Israel«, mit der Shultz kooperiert.
Zwar hofft er auf Geldgeber, doch bis dahin ist der 36-Jährige nicht untätig. Vor einigen Monaten schickte er an die 25.000 Adressaten seiner Mailingliste Einladungen zum Gründungstreffen von »Adopt-A-Safta«. Auf die Hilfe der Regierung oder großer Organisationen zu warten, kam ihm dabei nicht in den Sinn. »40 Jahre lang ist nicht viel passiert, um den Überlebenden zu helfen, warum sollte es jetzt geschehen?« Nach Angaben von Hilfsorganisationen versterben in Israel pro Jahr durchschnittlich 35 Menschen, die noch die Schoa miterlebt haben. »Wir müssen jetzt etwas tun. Wir haben keine Zeit mehr«, sagt Shultz.
Die Resonanz auf seine Einladung sei »wahnsinnig« gewesen. Hunderte von Menschen wollten prompt eine Safta oder einen Saba adoptieren. Etwas, das den »um seine Existenz kämpfenden Philanthropen«, wie Shultz sich selbst bezeichnet, zunächst überwältigte. »Die Anfangsaktion in Tel Aviv war unglaublich erfolgreich«, freut er sich, »doch so viele Freiwillige konnten wir anfangs gar nicht aufnehmen.«
Denn »Adopt-A-Safta« schickt nicht einfach junge Menschen zu älteren. Die Volontäre werden psychologisch geschult und entsprechend ihrer Wohnorte, Sprachkenntnisse, Religiosität und anderer Kriterien eingesetzt. Derzeit sind 80 Frauen und Männer aktiv. Es erfordere einen gewissen Einsatz, erklärt der Gründer. Auf einen Überlebenden kommt ein Team von zwei Leuten, damit immer jemand für die adoptierten Großeltern zur Verfügung steht. Pro Woche werden mindestens ein Besuch und ein Anruf erwartet. »Es ist eine Verpflichtung, doch erfahrungsgemäß hat dieses Engagement für beide Seiten viel Bedeutung und bringt jede Menge Freude.«
Kleinigkeiten Einen weiteren positiven Effekt hat der Einsatz der Freiwilligen. Sie berichten unmittelbar, woran es den Überlebenden fehlt. Das können ein schlechter Gesundheitszustand, aber auch eine kaputte Lesebrille oder ein defekter Toaster sein. »Es wäre wundervoll, wenn wir für solche Fälle einen finanziellen Notfalltopf hätten«, wünscht sich Shultz. »Meist sind es kleine Dinge, die für die Betroffenen aber von großer Bedeutung im Alltag sind.«
»Adopt-A-Safta« ist Teil der von dem New Yorker ins Leben gerufenen NGO »Am Yisrael Foundation«. Die gründete Shultz zum Gedenken an seine verstorbene Großmutter Kathe Kalya Friedman aus Berlin, auch eine Überlebende. Ende Januar will er »Adopt-A-Safta« auf Jerusalem ausweiten und das Konzept einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. Experten sind eingeladen, Schoa-Überlebende werden sprechen. Eine Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ist unter Dach und Fach. Shultz freut sich riesig über seinen Erfolg und ist jetzt mehr denn je überzeugt: »Man braucht kein Geld, um Einsamkeit zu heilen.«
www.adoptasafta.com