Als Jeffrey Smith 1971 zum ersten Mal vor die Westmauer in der Altstadt von Jerusalem trat, rangen zwei heftige Gefühle in ihm. Er war verzückt und überwältigt vom Anblick des jüdischen Heiligtums – und zugleich voller Ekel vor sich selbst. Denn der Platz vor der Mauer ist geteilt in einen Frauen- und einen Männerbereich. Smith musste eine Wahl treffen und wusste doch: Er hatte keine. Aus dem Frauenbereich würde man ihn hinausjagen. Doch als er sich zu den Männern stellte, fühlte er sich, als belüge er Gott.
Smith, geboren 1951, wuchs in New York in einer jüdischen, nicht sonderlich religiösen Familie auf. Seit frühester Kindheit fühlte er sich gefangen im falschen Körper. Schule war die Hölle. Die Jungen lachten ihn aus: »Du läufst wie ein Mädchen! Du sprichst wie ein Mädchen!«
»Ich habe das nicht verstanden«, sagt Yiscah Smith, die einmal Jeffrey war. »Aber natürlich hatten sie recht.« Yiscah Smith, 63, sitzt in einem Café in Jerusalem, eine elegant gekleidete ältere Dame, das Haar zu Wellen gefönt, die Bluse hochgeschlossen. Eine israelische Zeitung nannte sie einmal »die erste orthodoxe Transgender-Aktivistin«. Sie selbst sagt: »Ich bin eine Aktivistin für spirituelle Rechte. Ich arbeite für Gott, nicht für das Pride-Komitee.« Sie lächelt; ein feines Lächeln, gutmütig, gelassen. Hier sitzt eine Frau, die in sich ruht. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Kibbuz 41 Jahre lang versteckte Jeffrey, Yiscahs altes Ich, seinen inneren Kampf. In seiner Jugend gab es kein Internet, keine anonymen Unterstützergruppen. Er blieb allein mit seinem Schmerz und glaubte, er selbst sei schuld daran. 1971 reiste er für einen Sommer nach Israel. Nicht Religion oder Zionismus lockte ihn, sondern die Kibbuz-Ideologie, die Priorität des Kollektivs. »Im Kibbuz«, sagt Smith heute, »sollte man nicht an sich selbst denken. Ich dachte: Wenn ich nicht an mich denke, spüre ich vielleicht den Schmerz nicht mehr.«
Der Schmerz blieb. Doch etwas anderes änderte sich. In diesem noch so jungen, vitalen, selbstbewussten Land spürte er zum ersten Mal in seinem Leben Stolz: den Stolz, Jude zu sein.
Zurück in den USA, wandte Smith sich stärker der Religion zu. Er begann, die Mizwot strenger zu befolgen, legte die Kleider der Orthodoxen an. Und stellte sich einen Handel vor: Lebte er nur frommer, würde Gott ihn vielleicht befreien. »Ich habe das Richtige aus den falschen Gründen getan«, sagt Smith heute.
Befreiung Als junger Mann sah Jeffrey Smith keine Alternative dazu, dem Weg zu folgen, den die Gesellschaft vor ihm ausbreitete. Er ging mit Frauen aus, und er heiratete. Der Tag der Hochzeit war für ihn ein tieftrauriger Tag. »Als würde ich einen Teil meiner Seele verkaufen«, erinnert sich Smith. »Ich hätte das Kleid tragen sollen, das meine Frau trug!«
Seine Frau gebar sechs Kinder. 1985 zog die Familie nach Jerusalem, und Smith, inzwischen zum Lehrer ausgebildet, begann, an einer orthodoxen Mädchenschule zu lehren. Alle anderen Lehrer waren weiblich. Er fühlte sich unter seinesgleichen. Es war eine Befreiung.
Doch sie währte nur einige kostbare Stunden pro Tag. Morgens betete er zwischen Männern in der Synagoge – und hasste es. Sein innerer Kampf schlug feine Risse in die äußere Fassade, die immer schwerer aufrechtzuerhalten war. Eines Tages, im Jahr 1991, stürzte sie ein. Für die ganze Wahrheit fehlte Smith die Kraft, stattdessen outete er sich als homosexuell. So lieferte er seiner Frau eine Erklärung für seine Distanziertheit und den Rabbinern einen Grund, ihm die Scheidung zu erlauben.
Wahrheit Getrennt von seiner Familie und der Glaubensgemeinde, die ihn verstieß, gab Smith seinen frommen Lebensstil auf und zog zurück in die USA, diesmal an die Westküste. Dort begann er seine erste Beziehung mit einem Mann. Für einige Jahre war er glücklich – bis sein Partner eines Tages zu ihm sagte: »Ich liebe dich – aber du willst meine Frau sein. Und ich kann nicht mit einer Frau zusammen sein. Ich bin schwul!«
Anfangs verzweifelte Smith. Doch jene Worte hatten etwas in Bewegung gesetzt. Und an seinem 48. Geburtstag erwachte er mit der Erkenntnis: »Entweder die Scharade ist vorbei, oder mein Leben ist vorbei.« Er bat Gott um ein Zeichen. Und Gott, sagt Smith, ließ ihn spüren, dass eine Geschlechtsumwandlung der richtige Weg war. »Gott war während des ganzen Prozesses an meiner Seite. Das hat mich zurück zum Judentum gebracht.«
2011 zog Jeffrey Smith, nun als Yiscah, zurück nach Jerusalem. Heute unterrichtet sie an einer konservativen Jeschiwa und arbeitet als »spirituelle Mentorin«. Sie gibt Interviews, hält Vorträge und hat ein Buch geschrieben über ihren Weg zu sich selbst: 40 Years in the Wilderness.
Manche orthodoxe Rabbiner akzeptieren Yiscah Smith, andere verachten sie. Auch damit hat sie Frieden geschlossen. »Ich kann nicht in orthodoxe Viertel gehen und die Menschen auffordern, toleranter zu sein«, sagt sie. »Ich glaube aber, dass ich durch meine Lehre, durch meine Lebensweise und die Art, wie ich Menschen behandle, etwas verändern kann. Ich bin Lehrerin. Und Bildung heilt Hass und Angst.«