Die politische Lähmung in Israel ist aller Voraussicht nach vorbei. Nach 16 Monaten und drei Wahlen gibt es am Donnerstag, den 14. Mai, wahrscheinlich eine neue Regierung in Jerusalem. Dann soll das 35. Kabinett vereidigt werden, nachdem eine Woche zuvor 72 Abgeordnete der Knesset Benjamin Netanjahu als neuen Premierminister vorgeschlagen hatten.
Knessetsprecher Benny Gantz (Blau-Weiß) hatte am Montag das Parlament darüber informiert. Das stimmte anschließend mit 72 zu 36 Stimmen für eine Änderung im Grundgesetz zur Bildung der neuen Koalition. Damit wird eine Rotation im Amt des Ministerpräsidenten möglich. Die ersten 18 Monate soll Netanjahu vom rechtskonservativen Likud Regierungschef sein und anschließend Gantz den Chefsessel übernehmen. Der Koalitionsvertrag kann in Übereinstimmung der Unterzeichner nach drei Jahren verlängert werden.
Die Opposition kritisiert die hohe Zahl der Ministerposten.
Der Koalition werden neben Likud und Blau-Weiß auch die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Tora-Judentum und Schas sowie die Arbeitspartei und Gescher angehören. Insgesamt 72 Abgeordnete könnten für eine stabile Koalition sorgen, die das Ende des Stillstands bedeutet, der von vielen Experten als »größte Krise der israelischen Politik« gedeutet wurde.
CORONA Präsident Reuven Rivlin betonte: »Wir befinden uns in der noch nie da gewesenen Situation, dass das Land durch drei Wahlen hintereinander gehen musste. In den vergangenen Monaten hat Israel, gemeinsam mit der ganzen Welt, zudem die Corona-Krise überstehen müssen.« Rivlin hofft, »dass jetzt tatsächlich eine Regierung gebildet wird, die sich erfolgreich um die Krise kümmert, der wir ausgesetzt sind«.
Anfang der Woche war noch nicht klar, ob die nationalreligiöse Rechtspartei Jamina von Naftali Bennett der Regierung angehören wird. Bennett erklärte, er wolle lieber in der Opposition sitzen, denn »Netanjahu hat den Rechtsblock zerschlagen«. Israelische Medien berichteten, dass die Politiker von Jamina, darunter die einstige Justizministerin Ayelet Shaked und der derzeitige Bildungsminister Rafi Peretz, prominente Ressorts für ihre Teilnahme verlangten. Es hieß, Netanjahu habe mit Gantz darüber verhandelt, die 36 Ministerämter schon jetzt, und nicht erst in sechs Monaten, zu schaffen und so Jamina mit ins Regierungsboot zu holen.
Entsprechend dem Koalitionsvertrag ist die 35. Regierung des Landes zunächst als »Notfallregierung« definiert, die in den ersten sechs Monaten ausschließlich damit beauftragt sein soll, gegen das Coronavirus zu kämpfen. Vor allem wird es in den kommenden Monaten darum gehen, den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen, der durch den extremen Lockdown verursacht wurde.
Bisher gibt es mehr als 16.500 Infektionen mit Covid-19 und etwa 260 Todesfälle. Jerusalem hat jedoch bereits umfassende Erleichterungen der Beschränkungen eingeleitet, darunter das Öffnen von Geschäften, Einkaufszentren, Sporteinrichtungen und den teilweisen Betrieb von Schulen und Kindergärten.
ÜBERGANG Seit Dezember 2018 hatte Netanjahu einer Übergangsregierung vorgesessen, zu der lediglich 58 Parlamentarier gehörten. Bei den vergangenen Wahlen war Gantz mit seiner Union Blau-Weiß, zu der auch Jesch Atid von Yair Lapid und Telem von Moshe Yaalon gehörten, als Alternative zu Netanjahu angetreten. Doch in einer überraschenden Kehrtwende hatte er sich dem rechtsreligiösen Block angeschlossen, »aus Verantwortung für das Land und das Volk in Zeiten der Krise«, wie er erklärte. Gantz’ Partner zeigten sich entsetzt, die Zentrumsunion Blau-Weiß zerbrach daran.
Anschließend wurde die Regierungsbildung vor dem Obersten Gericht verhandelt, nachdem Bürgerrechtler eine Petition einreichten. Darin wird argumentiert, dass das Rotationsarrangement verfassungswidrig sei, und zudem, dass ein Premier unter Anklage keine Regierung bilden dürfe. Beide Punkte wurden vom Gericht unter dem Vorsitz der Obersten Richterin Esther Hayut abgewiesen.
Damit stand der Netanjahu-Gantz-Regierung nichts mehr im Weg. Allerdings sehen die Beteiligten sich wütender Kritik ausgesetzt. »So sieht keine Notfallregierung aus«, wetterte Yair Lapid in einer Knesset-Rede gegen die Änderungen des Grundgesetzes. »In einer Notfallregierung sollte jeder einzelne Schekel ausschließlich fließen, um die Wirtschaft zu retten.«
Die Opposition kritisiert vor allem die Größe des Kabinetts. Zunächst sollen 32 Minister plus 16 Vizeminister ernannt werden, nach sechs Monaten soll diese Zahl sogar auf 36 anschwellen. Damit wäre es die größte Regierung des Landes aller Zeiten.
Die Hälfte der Posten wird an den Zentrumsblock um Blau-Weiß gehen, der lediglich 19 Sitze stellt. Der Likud verfügt über 36 Sitze zuzüglich 16 der ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Tora-Judentum. Ein Mandat steuert Gescher bei. Bis Anfang der Woche waren lediglich einige Besetzungen von Ministerposten öffentlich geworden. So ist klar, dass der ultraorthodoxe Yaakov Litzman (Vereinigtes Tora-Judentum) das Wohnungsbauministerium übernehmen wird. Er war als Gesundheitsminister wegen seiner Aktionen während der Corona-Krise in die Kritik geraten. Die Ministerien für Finanzen, Transport und Energie dürften beim Likud bleiben, Justiz und Kommunikation werden wahrscheinlich Blau-Weiß zugesprochen.
PASSUS »Es ist ein korrupter Job-Karneval unter dem Deckmäntelchen von Corona«, so Lapid weiter. Er schlug eine Alternative vor: »Lasst uns die Politik beiseiteschieben und gemeinsam Hilfen für Selbstständige und Freiberufler erarbeiten. Die Regierung soll die Zahl der Minister auf 18 reduzieren. Das ist mehr als genug. Wir können und müssen eine bescheidene Regierung ohne Korruption formieren. Eine für die guten, hart arbeitenden Israelis.«
Die designierte Regierung sollte ursprünglich bereits am Mittwoch vereidigt werden.
Die designierte Regierung sollte ursprünglich bereits am Mittwoch vereidigt werden. Doch dem Termin kam der Besuch des US-Außenministers Mike Pompeo dazwischen. Bei dem Treffen ging es auch um die Annexion von Teilen des Westjordanlandes. Der Koalitionsvertrag verfügt über einen Passus, der eine Annexion nach dem 1. Juli möglich macht – sogar, wenn Gantz dagegen stimmt. US-Präsident Donald Trump hatte in seinem Rahmenwerk für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern eine Annexion von jüdischen Siedlungen im Westjordanland vorgeschlagen.
Sollte es im November bei den Präsidentschaftswahlen in den USA zu einem Regierungswechsel kommen, ist es unwahrscheinlich, dass sich auch ein demokratischer Präsident für unilaterale Schritte Israels aussprechen würde. Der voraussichtliche Kandidat der demokratischen Partei, Joe Biden, hatte bereits erklärt, dass er dagegen ist. Kritik kommt auch aus anderen Teilen der internationalen Gemeinschaft, darunter arabische Nationen, denen sich Israel gerade annähert, und die Europäische Union.