Der amerikanische Präsident Joe Biden ist bekannt dafür, seine Gesprächspartner zu berühren und damit emotionale Nähe zu schaffen.
Bei seinem Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem am Mittwochabend machte er diesem Ruf alle Ehre. Er kniete sich zu zwei Frauen, die die Schoa als Kinder überlebten, und unterhielt sich ausführlich mit ihnen.
LEKTION Dass Yad Vashem die erste Station auf seiner Nahosttour war, zeigt, wie viel Bedeutung Biden dem Gedenken an den Holocaust beimisst. Dies hatte er bereits bei der Ankunft auf dem Ben-Gurion-Flughafen erwähnt: »Wir müssen jeden Tag an die ermordeten sechs Millionen Juden erinnern, damit wir diese Lektion niemals vergessen.«
Vor dem Museum trug er sich in das Gästebuch der Gedenkstätte ein: »Es ist eine große Ehre, zurück zu sein – zurück in meiner emotionalen Heimat. Wir dürfen niemals vergessen. Wir müssen jede Generation lehren, dass es wieder passieren kann, wenn wir uns nicht daran erinnern. Das bringe ich meinen Kindern und Enkelkindern bei. Niemals zu vergessen«.
Bei der offiziellen Zeremonie in Yad Vashem entzündete Biden zutiefst bewegt die Ewige Flamme in der Gedenkhalle des Museums neu.
Bei dem Besuch mit dabei waren der israelische Premierminister Yair Lapid, Präsident Isaac Herzog, Verteidigungsminister Benny Gantz, der Vorsitzende von Yad Vashem, Dani Dayan, und der Vorsitzende des Rates von Yad Vashem, Rabbi Israel Meir Lau, selbst ein Holocaust-Überlebender.
HISTORIKERIN Der US-Präsident wurde von Außenminister Antony Blinken und Deborah Lipstadt begleitet, der Sonderbeauftragten der US-Regierung zur Bekämpfung von Antisemitismus. Blinkens Stiefvater, Samuel Pisar, war Holocaust-Überlebender, der ein bekannter Autor, Anwalt und Gelehrter wurde. Er hat die Rettung seines Vaters durch US-Soldaten oft als maßgeblich für die Prägung seiner Ansichten über Amerikas Rolle in der Welt beschrieben. Lipstadt ist eine der weltweit renommiertesten Holocaust-Historikerinnen und Autorin von acht Werken zu Antisemitismus und Schoa.
Biden hat oft darüber gesprochen, von seinem Vater etwas über den Holocaust erfahren und seine Söhne in ihrer Kindheit zum Besuch des Konzentrationslagers Dachau mitgenommen zu haben, damit sie das Gewaltpotenzial der Menschheit verstehen. Er nannte insbesondere White Supremacists und Neonazis auf dem Marsch in Charlottesville 2017 als Grund für seine Entscheidung, für das Präsidentenamt zu kandidieren, und verglich die »antisemitische Galle der Marschierenden mit dem, was wir in den 30er-Jahren in Europa gehört haben«.
Bei der offiziellen Zeremonie in Yad Vashem entzündete Biden zutiefst bewegt die Ewige Flamme in der Gedenkhalle des Museums neu und legte einen Kranz auf eine Platte, unter der die Asche von Holocaust-Opfern begraben ist. Als der Kinderchor Ankor »Walk to Caesarea – Eli Eli« von Hannah Szenes sang, hatte der Präsident Tränen in den Augen. Im Anschluss rezitierte Kantor Shmuel Berlad das jüdische Gebet »El Male Rachamim« für die Seelen der Märtyrer des Holocaust.
»Er bat um Erlaubnis, mich auf die Wange küssen zu dürfen.«
Holocaust-überlebende Rena quint
Im Anschluss traf der Präsident auf Giselle Gita Cycowicz (95) und Rena Quint (86), die ein wenig abseits standen. Es war der bewegendste Moment seines Yad-Vashem-Besuchs: Die beiden Frauen wollten aufstehen, um ihn zu begrüßen, doch er signalisierte ihnen, sich wieder hinzusetzen, und ging direkt auf sie zu. Biden kniete sich nicht nur zu ihnen hinunter, er hielt während des gesamten Gesprächs die Hände der beiden, die sichtlich berührt waren von der menschlichen Wärme des hohen Gastes.
Nach Angaben der Gedenkstätte wurde Cycowicz 1927 im damals zur Tschechoslowakei gehörenden Chust geboren. Sie wurde von den Nazis mit anderen Juden zusammengetrieben und im Ghetto eingesperrt, bevor sie nach Auschwitz-Birkenau und später in Zwangsarbeitslager deportiert wurde.
Quint wurde 1935 in Piotrkow Trybunalski, Polen, geboren. 1942 wurden ihre Mutter und ihre beiden älteren Brüder in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Rena und ihr Vater wurden in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo ihr Vater ermordet wurde. Sie wurde schließlich in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht und überlebte dort.
GEFÜHLE Laut Protokoll sollen physische Berührungen während Bidens Nahost-Visite weitgehend vermieden werden, aus Angst, dass sich der Präsident mit Covid-19 infizieren könnte. Doch offenbar vergisst Biden alle Vorsicht, wenn er von seinen Gefühlen überwältigt wird.
Im Anschluss an das Gespräch mit Biden strahlten die beiden Schoa-Überlebenden. »Haben Sie gesehen, wie der Präsident mich umarmte?«, fragte Quint sichtlich emotional. »Er bat um Erlaubnis, mich auf die Wange küssen zu dürfen, und er hielt weiterhin meine Hand. Dabei war vorher betont worden, dass wir ihn nicht berühren sollten.«
Doch ein gefühlvolles Treffen wie dieses scheint für Biden anders nicht möglich zu sein. Wenn es einen Ort gibt, an dem seine menschliche Wärme und Verbindlichkeit genau richtig sind, dann ist er hier, in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.