Interview

»Emotional sind wir alle im 7. Oktober«

Jenny Havemann lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv. Ein Gespräch über den Tag, der alles veränderte, deutsche Polit-Talkshows und den zweiten bundesweiten Hackathon gegen Antisemitismus

von Katrin Richter  07.04.2024 07:23 Uhr

Jenny Havemann Foto: Michal Sela

Jenny Havemann lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv. Ein Gespräch über den Tag, der alles veränderte, deutsche Polit-Talkshows und den zweiten bundesweiten Hackathon gegen Antisemitismus

von Katrin Richter  07.04.2024 07:23 Uhr

Frau Havemann, Sie sind kürzlich auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv durch einen nachgebildeten Tunnel gegangen. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Ich hatte keine Angst davor, in diesen Tunnel hineinzugehen. Ich war bereits in der ersten oder zweiten Woche auf dem Platz der Geiseln, als die Familien noch gegenüber dem Verteidigungsministerium ein paar Zelte aufgestellt hatten, sich dort hinsetzten und mit Menschen sprachen, die vorbeikamen. Jetzt, auf dem Platz vor dem Museum of Art, bin ich regelmäßig samstags bei den Demonstrationen. Nun haben sich die Familien der Geiseln den Anti-Regierungsdemos angeschlossen. Ich war zum ersten Mal seit dem 7. Oktober gegen die Regierung demons­trieren. Doch jetzt ist es anders. Zum Frust gegen die Vorhaben der Regierung ist der Frust hinzugekommen, dass die Regierung für die Geiseln nicht genug tut. Neben üblichen politischen Reden bei den Kundgebungen sprechen und schreien jetzt die Angehörigen der Geiseln von der Demo-Bühne.

Wie ist es in dem Tunnel?
Zu Beginn sieht man einige Bilder der Geiseln, innen hört man Geräusche, die einem das Gefühl vermitteln, man sei wirklich in einem Tunnel. Es ist ein total beengendes Gefühl. Es ist bedrückend, dunkel, kalt. Und das ist zum Beispiel so ein Punkt, an dem ich irgendwie das Gefühl hatte, so muss sich der Holocaust angefühlt haben. Ich habe neulich eine Schoa-Überlebende getroffen, die ebenfalls gesagt hat, dass sie sehr viele Parallelen sieht zwischen dem Holocaust und dem 7. Oktober 2023. Was mir nach dem Besuch noch einmal viel klarer wurde: Du läufst halt ein paar Sekunden und bist wieder draußen inmitten von Tel Aviv, während die Geiseln seit 180 Tagen in diesen Tunneln sind. Sie wissen nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Draußen vor dem Tunnel stehen mittlerweile auch Zelte, in denen zum Beispiel Solidaritätsbändchen verkauft werden oder Kalender. Auch wenn das irgendwie ein bisschen befremdlich klingt. Ich habe tatsächlich einen Kalender gekauft, auf dem für jeden Tag im Januar, Februar, März rot der 7. Oktober gekennzeichnet ist. Und das trifft eben genau dieses Gefühl: Emotional sind wir alle im 7. Oktober 2023.

Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?
Meine Familie und ich, wir sind modern-orthodox und halten Schabbat. Um 6.30 Uhr wachten wir durch die Sirenen auf, haben unsere Kinder genommen und sind ins Bunkerzimmer gegangen. Es war komplett dunkel dort, und wir dachten, es sei ein Fehl­alarm. Dann hörten wir die Explosion, und meinem Mann und mir war sofort bewusst: Das ist jetzt wirklich ernst. Wir sind dann aber ganz normal in die Synagoge gegangen – allerdings war da schon klar, dass irgendetwas anders ist.

Können Sie beschreiben, wie es war?
Plötzlich sahen wir in der Synagoge, in der wirklich die meisten den Schabbat halten, Handys, zwischendurch hörte ich Sätze wie: »Es gibt Geiseln und Tote.« Alles war sehr irritierend. Als ich dann am Nachmittag zu einer Nachbarin gegangen bin, bei der der Fernseher lief, sah ich den Bericht, dass es 100 Tote gegeben haben soll. Ich war absolut sprachlos. Reporter standen in den Feldern irgendwo im Süden, die Kameras zeigten junge Leute, die vom Nova-Festival gekommen waren und schrien. Es war einfach alles surreal. Abends gab es dann wieder Sirenen. Wir Eltern machen uns Sorgen um die Sicherheit und die Seelen der Kinder.

Sie sind oft Gast in politischen Talkshows oder auch in den Nachrichten zugeschaltet. Wie gehen Sie mit »Ja, aber …«- und »Beide Seiten müssen …«-Diskussionen um?
Ich denke mir: Wie verloren ist unsere Welt eigentlich? Man hat das Gefühl, sie steht auf dem Kopf. Wie konnte es so weit kommen, dass Gut und Böse so einfach verdreht werden können? Ich versuche immer, die Contenance zu wahren – auch wenn ich an Schulen in Deutschland spreche und mir dann einfach plumpe Hamas-Propaganda-Argumentation begegnet. Es ist aber nicht immer einfach, weil ich sozusagen zwei Rollen spiele. Auf der einen Seite bin ich Betroffene – sowohl als Israelin als auch als Jüdin. Auf der anderen Seite bin ich ja Bloggerin und sehe mich auch ein bisschen in der Pflicht, so eine Art Schutzwand aufzubauen, zu erklären, zu überzeugen. Es ist nicht einfach, diese zwei Rollen gleichzeitig zu spielen.

Was schlägt Ihnen als Bloggerin alles entgegen?
Erst kürzlich erschien ein Bericht, in dem eine ehemalige Geisel schildert, was ihr an sexueller Gewalt angetan wurde. Ich habe in den sozialen Medien die ganze Zeit Kommentare und Nachrichten bekommen wie »Das wart ihr doch alles selbst« oder »Das Leid der palästinensischen Frauen ist ja auch furchtbar«. In letzter Zeit ist interessant zu beobachten, dass diejenigen, die eine Waffenruhe fordern, noch so ein »Übrigens: Bring them Home« hinzufügen. Es soll ausgewogen klingen, aber letztendlich frage ich: Wo ist denn euer Mitleid? Wo ist eure wirkliche Unterstützung für die Geiseln und für die Familien der Geiseln? Ich habe das Gefühl, dass der Fokus wirklich nur auf den armen Menschen in Gaza liegt, und natürlich ist es schrecklich und furchtbar, wie das Leben dort sein muss – sowohl mit der Hamas als auch mit dem ständigen Krieg. Aber man kann die Menschen auch nicht komplett aus der Verantwortung nehmen, denn über 70 Prozent der Palästinenserinnen und Palästinenser finden es richtig, was die Hamas am 7. Oktober getan hat.

Woher nehmen Sie die Kraft, immer weiter zu posten – auch wenn Sie angefeindet werden?
Ich bin eine Kämpferin gegen Ungerechtigkeiten, und ich gebe nicht auf. Ich glaube, dass dieses Kämpfen irgendwie in jüdischen Familien weitergegeben wird. Meine Großeltern, meine Eltern hatten mit Diskriminierung zu kämpfen. Meine Urgroßeltern im Holocaust sowieso. Was die Hasspostings angeht, sie sind meistens überhaupt nicht inhaltlich, sondern ziehen sich auch an Äußerlichkeiten hoch. Ich bekomme allerdings auch viel positives Feedback von Menschen, die sowohl die jüdische Community und Israel als auch unseren Überlebenskampf unterstützen. Dieses Feedback zeigt auch: Ich will und werde nicht aufgeben.

Am 7. April wird es den zweiten bundesweiten Hackathon gegen Antisemitismus geben. Wie kam diese Veranstaltung zustande?
Ich hatte gemeinsam mit Wencke Stegemann die Idee, nachdem es einen Anschlag auf einen jüdischen Studenten in Hamburg gegeben hatte. Sowohl mein Mann als auch ich kommen beide aus der dortigen Gemeinde, und für uns war das Thema ziemlich nah dran. Ich fragte mich: Was kann ich noch tun? Nicht nur reden auf Social Media über Antisemitismus, was auch wichtig ist, aber was kann man konkret tun? Aus meiner Arbeit mit Start-ups hier in Israel kannte ich Hackathons, um konkrete Probleme zu lösen, also dachte ich mir: Das geht auch mit Antisemitismus. Das ist nun der zweite bundesweite Hackathon gegen Antisemitismus, der dieses Jahr in Kiel stattfindet. Zwölf Teams werden in der Fachhochschule Kiel mit vor Ort sein – und es ist eine interessante Gelegenheit, seine Ansätze zu präsentieren und auch zu netzwerken.

Mit allen großen Problemen in der Welt, was wünschen Sie sich?
Das ist schwer zu beantworten, denn die alltäglichen Sorgen hier in Israel sind enorm groß. Möglicherweise droht ein Krieg im Norden. Alle bereiten sich vor; es ist eine seltsame Stimmung. Wir sind mitten in einem Krieg, und schon droht der nächste. Und damit wächst auch die Gewissheit, dass es schlimm werden kann für uns. Daher ist das mit dem Wünschen etwas schwierig, aber ich versuche es dennoch: Für Israel wünsche ich mir, dass alle Geiseln wiederkommen, dass es sicherheitstechnisch eine Lösung geben wird. Dass die Familien im Norden und im Süden wieder in ihre Häuser zurückkehren können. Ich wünsche mir, dass, falls es zu einem Krieg kommt, dieser nicht zu schlimm wird. Ich glaube allerdings schon, dass es schwer wird. Und für Deutschland wünsche ich mir, dass wir es irgendwie schaffen, mehr Menschen zu erreichen – an Schulen und Universitäten. Und dass wir das, was durch so viel islamistische Propaganda kaputtgegangen ist, durch Aufklärung wieder reparieren können.

Mit der Unternehmerin und Bloggerin sprach Katrin Richter.

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