Die Maschine war eine Schönheit. Ihr stromlinienförmiger Rumpf und die oval geformten Flügel sahen sensationell aus. Angetrieben wurde sie von gleich vier Triebwerken, deren Typenbezeichnung Wright R-3350 Duplex-Cyclone auf ihre beeindruckende Leistung hindeutete.
Die Lockheed L-149 Constellation war im Jahr 1955 ein Wunderwerk der Technik und damit eine der prestigeträchtigsten Passagiermaschinen ihrer Zeit.
Dieses Exemplar fiel auch aus anderen Gründen auf: Neben seiner Kennung 4X-AKC prangte an zwei der drei Heckflossen der Maschine jeweils der Davidstern in Blau. Dieses Hexagramm-Symbol deutete auf den nur sieben Jahre zuvor gegründeten Staat hin, in dem dieses Flugzeug registriert war.
Zweiter Zwischenstopp
Am 27. Juli 1955 befanden sich 51 Passagiere, darunter drei Kinder, und sieben Crewmitglieder, an Bord dieser Constellation der israelischen Gesellschaft El Al. Der Flug sollte von London über Paris, Wien und Istanbul nach Tel Aviv gehen.
Als das Flugzeug nach dem zweiten Zwischenstopp um 2:53 Uhr die Startbahn in Wien-Schwechat entlang raste, um in Richtung Istanbul abzuheben, hatten die Insassen weniger als drei Stunden zu leben.
Flug 402 folgte der Luftfahrtroute »Amber 10«. In der Dunkelheit dieses frühen Morgens verwechselten die Piloten möglicherweise den Sender »Skopje NDB« mit einem anderen Signal. Das Ergebnis dieser Verwechslung: Sie drehten auf Kurs 142 ab und bewegten sich damit in Richtung der jugoslawischen Grenze zu Bulgarien.
Navigation erschwert?
Während dieser Phase des Kalten Krieges war Jugoslawien im Ostblock ein weniger komplizierter, weniger feindseliger Staat – aus der Perspektive Israels und des Westens. Für das kommunistische Bulgarien galt dies allerdings nicht.
Bis heute ist nicht endgültig geklärt, warum die Piloten der israelischen Maschine den Fehler begingen, zu sehr in Richtung Osten abzudrehen. Eventuell gab es Gewitter, die die Navigation unter den Bedingungen von 1955 erschwerten.
Ein weiterer Faktor, der die gefährliche Situation für Flug 402 mit verursacht haben könnte: Müdigkeit. Um diese Uhrzeit wäre sie für Piloten im Dienst zwar nicht akzeptabel, aber erklärbar.
Militärischer Wachposten
Ein Aspekt belegt, dass die Cockpit-Crew in der Tat ein erhebliches Problem mit der Navigation hatte: Das Flugzeug wurde über einem militärischen Wachposten in der Nähe der bulgarischen Stadt Tran registriert. Dieser Ort liegt nordöstlich von Skopje – also nicht wirklich in Richtung Istanbul.
In diesem Moment begann der Prozess, der schließlich zum Abschuss der Zivilmaschine führte. Der diensthabende Luftwaffengeneral Velichko Georgiew befahl zwei MiG-15-Piloten, das Flugzeug abzufangen. In diesem Moment wusste er wahrscheinlich nicht, welche Maschine unerlaubterweise in den bulgarischen Luftraum eingedrungen war.
Die MiGs starteten vom nördlich von Sofia gelegenen Militärflugplatz Dobroslavtsi aus in den Nachthimmel und erreichten den El-Al-Flug schnell. Später gaben die Luftwaffensoldaten an, sie hätten die Piloten der Zivilmaschine gewarnt. Demnach gaben sie Warnschüsse vor den Bug der Constellation ab.
General Georgievs Befehl
Die Crew der israelischen Maschine wollte den Bulgaren offenbar signalisieren, dass sie die Warnung verstanden hatten, indem sie das Fahrwerk herunterließen. Zugleich begingen sie möglicherweise den größten Fehler dieser Nacht – und ihres Lebens.
Da sie sich inzwischen im Luftraum von Petrich befanden, nur wenige Kilometer von der griechischen Grenze, kann es sein, dass sie versuchten, der bulgarischen Luftwaffe zu entkommen. Aber die Piloten der El Al-Maschine sollten nie die Möglichkeit erhalten, ihre Sicht der Dinge darzulegen.
Der Befehl von General Georgiev an seine MiG-Piloten ist dokumentiert: »Wenn das Flugzeug unseren Luftraum verlassen und sich den Anweisungen widersetzen sollte, und wenn keine Zeit mehr ist für weitere Warnungen, schießen Sie es ab.«
Drei Angriffe
So geschah es dann. Der El Al-Flug wurde dreimal angegriffen. Zuerst wurde die Constellation in ihrer Reiseflughöhe beschossen. Dann, in einer Höhe von gut 2400 Metern, erfolgte der zweite Angriff. Wie viele Passagiere und Besatzungsmitglieder bei diesem Angriff bereits starben oder verletzt wurden, ist nicht bekannt.
Bei 600 Metern erfolgte der dritte und letzte Angriff. Die El Al-Maschine zerbrach in der Luft. Wer an Bord war und noch lebte, starb spätestens beim Aufprall in der Nähe von Petrich.
Im Jahr 1955 gab es keine Luft-Luft-Raketen, die ihr Ziel selbstständig hätten suchen können. Sicher ist: Die bulgarischen MiGs waren nah dran, was wiederum bedeutet, dass die Luftwaffenpiloten das Flugzeug sahen, inklusive der Davidsterne am Leitwerk. Sie wussten, welche Art Maschine sie aus dem Himmel schossen und woher sie kam. Damit war ihnen auch klar, dass sowohl die Passagiere als auch die Piloten Zivilisten waren.
Befolgter Befehl
In einem später erstellten Bericht des Vorfalls heißt es: »Die Maschine wurde einmal oder mehrfach getroffen. Dadurch wurden ein Druckabfall und ein Brand der Heizvorrichtung verursacht. Das Flugzeug zerbrach durch die von Projektilen verursachte Explosion.« Von großkalibrigen Geschossen ist die Rede, die entweder lediglich die rechte oder auch beide Tragflächen sowie das Heck der Maschine getroffen hätten. Von Flug 402 war nach dem Angriff in Süd-Bulgarien nicht mehr viel übrig.
Zunächst warfen sich Israel und Bulgarien gegenseitig Provokation vor. Dann war in Sofia offenbar plötzlich von einer Inhaftierung der Luftwaffenpiloten die Rede, bis klar war, dass sie einen Befehl befolgt hatten.
Dennoch wies das kommunistische Regime Bulgariens zunächst jede Verantwortung von sich. Es dauerte allerdings nicht lange, bis es eine Kehrtwende vollzog und sich dazu entschied, sich offiziell in einem Brief zu entschuldigen. Im Kalten Krieg, in dessen Verlauf es schon zuvor zu ernsten, tödlichen Vorfällen gekommen war, stellte dies eine Premiere dar.
»Muwillige Missachtung«
In dem Schreiben hieß es laut »Keesing’s Record of World Events«, sowohl die Regierung als auch das bulgarische Volk bedauerten das Desaster zutiefst. Israel antwortete, indem es Sofia eine »schockierende Rücksichtslosigkeit« sowie »eine mutwillige Missachtung menschlichen Lebens und der elementaren Pflichten der Menschlichkeit« vorwarf.
Wenig später ging ein weiteres Schreiben aus Jerusalem in Sofia ein. Darin beschwerte sich Israel über die Entscheidung des Regimes von Diktator Valko Chervenkov, israelischen Ermittlern den Zugang zur Absturzstelle zu verwehren. Die Beschwerde wirkte zum Teil: Am 30. Juli 1955, drei Tage nach dem Angriff, durften drei aus Tel Aviv eingeflogene Experten die Wrackteile bei Petrich sechs Stunden lang untersuchen.
Sie stellten später fest, die Bulgaren hätten die Spuren des Absturzes manipuliert. Zudem sei das Flugzeug regelrecht »von Kugeln durchsiebt« worden. Augenzeugen des Angriffs auf die El-Al-Maschine durften die Israelis nicht befragen.
Lächerlicher Betrag
Ursprünglich hatte Bulgarien erklärt, die Maschine sei mit Boden-Luft-Kanonen abgeschossen worden, woraufhin sich herausstellte, dass es die MiGs waren. Wären es wirklich Flugabwehr-Geschosse gewesen, so hätte sich Bulgarien eventuell herausreden können. Die MiG-Piloten wussten jedoch, dass sie ein ziviles Flugzeug abschossen, da sie es sahen. Dadurch war der Fall klar.
Als Bulgarien im Dezember 1955 den Vereinten Nationen beitrat, verklagte Israel das Land vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wie die Rechtsexpertin Rumyana Marinova-Christidi 2018 in Sofia erklärte. Israel verlangte 1,8 Millionen Dollar für die Hinterbliebenen der Opfer und 3,8 Millionen Dollar für den materiellen Schaden. Andere Länder, die ebenfalls Bürger durch den Angriff über Bulgarien verloren, wollten insgesamt 1,2 Millionen Dollar.
Nach fast zehn Jahren, im Jahr 1964, endete ein langer Rechtsstreit: Für jedes Opfer zahlte Sofia 5000 Dollar. Selbst unter Einbeziehung der Tatsache, dass Bulgarien ein kleines kommunistisches Land war, handelte es sich um einen sehr geringen Betrag.
Zehn Nationen
Viele Opfer von Flug 402 sind auf dem Kiryat Shaul-Friedhof in Tel Aviv begraben. Eine Gedenkskulptur des bulgarischen Künstlers Ivan Minekov ist dort zu sehen. Jeweils am 27. Juli kommen jährlich Hinterbliebene auf dem Friedhof für Gedenkzeremonien zusammen. Auch Regierungsbeamte und El-Al-Vertreter nehmen daran teil. Nur ein paar Mal soll auch der bulgarische Botschafter in Israel dabei gewesen sein.
Passagiere aus mindestens zehn Nationen befanden sich an Bord des Flugzeuges, als es abgeschossen wurde, auseinanderbrach und abstürzte. Es handelte sich um 15 Israelis, 12 US-Amerikaner, fünf Sowjetbürger, jeweils vier Kanadier, Briten und Südafrikaner, drei Deutsche, jeweils einen Österreicher, Schweden und Polen sowie einen Passagier, dessen Nationalität nie ermittelt werden konnte.
Der Pilot, Stanley Hinks, war ein erfahrener, ehemaliger Kommandeur der Royal Air Force Großbritanniens. Zeitweise war er sogar Premierminister Winston Churchills persönlicher Pilot gewesen. Hinks war kein Mann, der leicht eingeschüchtert werden konnte. Diese Eigenschaft wurde ihm über Petrich möglicherweise zum Verhängnis – in Verbindung mit dem Abschussbefehl aus Sofia.