Zwei Untersuchungen über die Versäumnisse der israelischen Sicherheitskräfte vor dem 7. Oktober 2023 sind zu einem schockierenden, wenn auch wenig überraschenden Ergebnis gekommen: Die verheerenden Massaker der Terrororganisation Hamas im Süden Israels mit mehr als 1200 Toten, Tausenden Verletzten und 251 Geiseln hätten verhindert werden können.
Sowohl die israelische Armee (IDF) als auch der Inlandsgeheimdienst Schin Bet führten interne Untersuchungen über ihr Versagen vor und während des Terrorüberfalls durch. Die IDF kam zu dem Ergebnis, dass Regierung und Armee fälschlicherweise an der Überzeugung festhielten, die Hamas sei nicht an einer groß angelegten Konfrontation interessiert – obwohl Geheimdienstinformationen vorlagen, die dieser Annahme widersprachen.
»Das Denksystem war tief verwurzelt, und im Laufe der Jahre wurden keine Anstrengungen unternommen, um es zu widerlegen«, heißt es in der Zusammenfassung. Eine tiefgreifende Diskussion darüber, »was wäre, wenn wir falsch liegen«, habe nicht stattgefunden.
Der Bericht kritisiert außerdem die Einstufung der Bedrohung durch die Hamas im Gazastreifen als »zweitrangig« und spricht von einer Politik des »Konfliktmanagements« gegenüber der Terrororganisation. Dem beispiellosen Angriff sei ein »jahrelanges Versagen der Geheimdienste« vorausgegangen, wiederkehrende Warnsignale seien über Jahre hinweg falsch gedeutet worden.
Sicherheitszaun zwischen Israel und Gaza
Geheimdienstmitarbeiter hätten es versäumt, eigene Annahmen zu hinterfragen, heißt es in dem Bericht weiter. Obwohl Soldaten noch in der Nacht vor dem Überfall der Hamas ungewöhnliche Aktivitäten in Gaza feststellten, etwa die Aktivierung israelischer SIM-Karten durch wichtige Mitglieder der Terrorgruppe, reagierten sie nicht darauf.
Darüber hinaus sei Israels Armee insgesamt nicht auf den Angriff vorbereitet gewesen und davon ausgegangen, dass der Sicherheitszaun zwischen Israel und Gaza »unüberwindbar« sei.
Ein fataler Irrtum. Mehr als 5000 Terroristen aus dem Gazastreifen durchbrachen am 7. Oktober 2023 den Grenzzaun an rund 100 Stellen und drangen nach Israel ein, zum Teil ohne Widerstand. Zu Beginn des Terrorangriffs hätten ihnen auf israelischer Seite gerade einmal 767 Soldaten gegenübergestanden.
Die Militärführung habe selbst nach Beginn des Angriffs zunächst nicht erkannt, was vor sich ging. Dies verzögerte ihre Reaktion darauf zusätzlich. In dieser kritischen Zeitspanne seien viele Menschen ermordet und entführt worden, fasst der Bericht zusammen.
»Für uns alle ist immer noch der 7. Oktober«, gab ein Offizier, der bei der Untersuchung mitgewirkt hatte, anonym in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender Kan zu. »Es ist unmöglich, davon loszukommen, vor allem nicht nach diesen Ergebnissen.«
Wiederkehrende Warnsignale wurden über Jahre hinweg falsch gedeutet.
Analysiert wurden auch die Vorbereitungen der Hamas, unter anderem auf Grundlage von Dokumenten, die im Hauptquartier der Terrorgruppe in Gaza gefunden wurden, sowie von Verhören hochrangiger Hamas-Anführer. Dabei kam heraus, dass diese bereits nach dem Ende des Israel-Gaza-Krieges 2014 damit begonnen hatten, einen großen Angriff auf Israel zu diskutieren.
Kurz nach Veröffentlichung der IDF-Untersuchung legte auch Israels Inlandsgeheimdienst einen Bericht über die eigenen Fehler vor, die den 7. Oktober 2023 mit ermöglicht haben. Darin heißt es unter anderem: »Wenn der Schin Bet anders gehandelt hätte, in den Jahren und auch in der Nacht vor dem Angriff, (…) wäre das Massaker verhindert worden.«
Verantwortung zwischen Schin Bet und Armee
Mit Geheimdienstinformationen über Angriffspläne der Hamas sei nicht angemessen umgegangen worden, die Verantwortung zwischen Schin Bet und der Armee nicht klar genug aufgeteilt gewesen. Auch der Geheimdienst habe sich insgesamt zu sehr auf die Grenzanlagen zum Gazastreifen und die Bereitschaft des Militärs verlassen.
Vonseiten der Politik sei im Hinblick auf Gaza eine »Politik der Ruhe« priorisiert worden, die es der Hamas ermöglicht hätte, massiv aufzurüsten. Millionengelder aus Katar seien während dieser Jahre an den militärischen Flügel der Terrororganisation geflossen. Die Gelder hätten mit dem Wissen und der Billigung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Kassen der Hamas gefüllt.
Der Premier und die Mitglieder seiner Koalition lehnen die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission kategorisch ab.
Der Premier und die Mitglieder seiner Koalition lehnen die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission über die Versäumnisse der Regierung allerdings kategorisch ab. Obwohl die Öffentlichkeit dies nicht nur befürwortet, sondern sogar fordert. Die Mehrheit der Bevölkerung – seien es Juden, Araber, Rechte, Linke oder Säkulare, Traditionelle, Nationalreligiöse oder Charedim – spricht sich für eine Untersuchung aus.
Dana Blander, klinische Psychologin am Israel Democracy Institute in Jerusalem, meint zu wissen, warum Netanjahu eine staatliche Kommission verweigert: »Abgesehen von der Zurückhaltung, die wir von jeder Person oder Institution erwarten würden, wenn sie sich einer Untersuchung unterziehen müsste, ist Netanjahus größte Sorge die Wahrheit selbst und die Angst, zur Verantwortung gezogen zu werden.«
Zwei wichtige Ziele
Zwar werde die Wahrheit den Lauf der Dinge nicht ändern, doch Blander ist überzeugt, dass zwei wichtige Ziele erreicht würden: »Erstens kann dokumentiert werden, was geschehen ist. Dies ermöglicht es der Gesellschaft, sich mit ihrem kollektiven Schmerz und ihrer Wut auseinanderzusetzen.« Zweitens würde die Aufdeckung der Fakten es erlauben, aus Fehlern zu lernen und Lehren für die Zukunft zu ziehen.
»Auch wenn endlich Verantwortung übernommen wird, dreht dies die Zeit nicht zurück. Diejenigen, die wir verloren haben, kehren nicht zurück, und das Trauma des 7. Oktober wird nicht ausgelöscht werden«, so Blander weiter. »Die Anerkennung von Verantwortung ist unerlässlich, um in einer chaotischen Welt der Machtlosigkeit ein Gefühl von Ordnung und Kontrolle wiederherzustellen. Es ist entscheidend, das Vertrauen in den Staat, seine gewählten Amtsträger und seine Institutionen zurückzugewinnen.«
Blander ist überzeugt, dass die Israelis »als Bürger und als Nation voranschreiten und genau dort wachsen müssen, wo es am meisten schmerzt«. Daher sei die Einrichtung einer staatlichen Untersuchungskommission »bürgerliche, moralische und öffentliche Pflicht auf höchstem Niveau. Sie muss erfolgen«.
Dass sich die Regierung der Forderung der Mehrheit der Bevölkerung bald beugen werde, bezweifeln viele. Yonatan Shamriz, der Bruder der von der IDF in Gaza versehentlich erschossenen Geisel Alon Shamriz, meint: »Angesichts des Fehlens von Führung, Verantwortungsbewusstsein, Vision und Vorbildern müssen wir selbst diejenigen sein, die nach Antworten und der Wahrheit suchen.«