Die WELT weint um Christine Kensche. Besonders ihr Feingefühl wird uns fehlen. Christines Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen und auf sie einzugehen, war eine ihrer herausragenden menschlichen und journalistischen Qualitäten. Vielleicht braucht ein Auslandskorrespondent dieses Feingefühl an keinem anderen Ort so sehr wie in Israel, diesem unendlich komplexen Land.
Israelis, die mit Christine zusammengearbeitet haben oder mit ihr befreundet waren, erzählen, wie schnell sie persönliche Beziehungen geknüpft hat, als sie 2020 Korrespondentin in Tel Aviv wurde. Wie klug ihre Fragen waren. Wie sehr sie das Land verstehen wollte. Und wie sehr sie sich allen Klischees und Stereotypen verweigerte, einer Versuchung, der leider zu viele Korrespondenten im Nahen Osten erliegen. Stattdessen zeichnete sich Christine als unabhängige Beobachterin aus. Im Kleinen, aber auch im Großen. Ihre Vor-Ort-Reportagen waren so präzise wie ihre Politik-Analysen.
Beeindruckende Reporterin mit exzellenter Ausbildung
Voraussetzung dafür war eine exzellente akademische und journalistische Ausbildung. Studiert hat Christine Geschichte, Politik und Neue Deutsche Literatur, sie war auch als Dozentin an der Universität Bonn tätig. Das journalistische Handwerk erlernte sie an der Axel Springer Akademie in Berlin. Aus Israel berichtete sie erstmals von 2013 bis 2014, damals noch als freie Journalistin für diverse deutsche Medien, darunter das ZDF, Spiegel Online und Emma.
In den folgenden Jahren arbeitete Christine für WELT als Investigativ-Reporterin. Hier machte sie sich unter anderem durch ihre Reportagen und Enthüllungen aus dem Clan-Milieu einen Namen und beeindruckte die Redaktion mit ihrem Mut. Den Chef eines berüchtigten Berliner Clans traf sie auf dessen Terrasse. Drohungen, die aus ihrer Berichterstattung erfolgten, ließen sie unbeeindruckt. Ihre eindringlichen Recherchen publizierte sie auch in einem Buch.
Ihren kritischen Geist bewahrte sie sich bei aller Liebe zu Israel auch als Korrespondentin. Schonungslos kommentierte sie etwa die umstrittene Justizreform, aber sie verwechselte nie Kritik an einer Regierung mit Pauschalkritik an Israel. Was sich im ersten Moment wie eine Selbstverständlichkeit anhören mag, hat leider im deutschen Journalismus Seltenheitswert. Die Fairness, mit der Christine berichtete, brachte eine weitere ihrer besonderen Qualitäten zum Vorschein – Herzensbildung.
»Sie beschrieb, was manch andere nicht ans Licht der Öffentlichkeit bringen konnten oder wollten.«
Ihr Einfühlungsvermögen zeichnete auch Christines Berichterstattung über den Terror gegen Israel am 7. Oktober aus. Für das Leid und die Grausamkeiten, die eigentlich unbeschreiblich sind, suchte und fand Christine Worte. Sie beschrieb die sexuelle Gewalt gegen israelische Frauen, die manch andere nicht ans Licht der Öffentlichkeit bringen konnten oder wollten.
Sie recherchierte auch die Netzwerke des Terrors, die Finanzströme, die teilweise über Deutschland liefen. Und der Terror machte buchstäblich vor ihrer eigenen Haustür in Tel Aviv nicht halt. Was Christine in Israel gesehen, beschrieben, eingeordnet hat, hinterließ Spuren – selbst bei einer gestandenen Journalistin.
»Solange wir leben, werden auch sie leben, denn sie sind nun ein Teil von uns, wenn wir uns an sie erinnern«, heißt es in einem jüdischen Gebet. Wir werden Christine in unserer Erinnerung bewahren.