Gegen 10.30 Uhr heult die erste Sirene des Tages. Luftalarm. Eigentlich sollte man innerhalb von 30 Sekunden Schutzräume aufsuchen oder sich draußen auf den Boden legen und den Kopf mit den Händen schützen. Hier in Aschkelon nehmen es manche damit schon nicht mehr so genau, scheint es. Das kann lebensgefährlich sein.
»Aber irgendwie haben wir uns auch schon daran gewöhnt«, sagt Marlin, die bei einem Milchkaffee im Café Roladin sitzt. Das Café ist fast leer. »Ich brauche etwas Normalität, will hier meinen Kaffee trinken«, sagt die Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet als Krankenschwester im Kaplan-Hospital. Im Moment hat sie ihre Mutter, deren Wohnung bei einem Raketeneinschlag zerstört wurde, zu sich genommen. Die Kinder sind bei ihrem geschiedenen Mann. »Um mich mache ich mir keine Sorgen, aber um meine Kinder«, meint Marlin. »Meine 15-jährige Tochter ist regelrecht hysterisch. Das habe ich noch nie bei ihr erlebt. Aber das ist nicht die Angst vor den Raketen, sondern vor den Terroristen aus dem Gazastreifen.«
Am Nebentisch hat der Chef des Cafés Platz genommen. Yaniv erzählt, dass er derzeit höchstens 25 Prozent vom normalen Umsatz macht. »Es kommen wenige Gäste. Und kaum einer will sich hinsetzen, alle holen nur etwas zum Mitnehmen. Wir haben Tage, an denen das meiste, was wir hier backen, im Müll landet.«
Nur rund 30 Meter vom Café entfernt, ist am zweiten Tag des Krieges eine Rakete eingeschlagen. Sie landete in einem Gebüsch, steckt dort noch immer in der Erde. Die Polizei war zwar da, konnte sie aber nicht herausholen, berichtet Schlomo. Die Fenster umliegender Läden und Wohnungen sind zersplittert, die Fassade des Wohnhauses ist beschädigt. Überall schlugen Schrapnelle ein.
»Wir haben nichts, wo wir hingehen können. Wir können nur ins Treppenhaus. Und das ist eine Art Russisch Roulette.«
Das Haus ist alt, alles schon etwas heruntergekommen. Hier hat keine Wohnung einen Schutzraum. »Wir müssen beim Alarm ins Treppenhaus rennen«, sagt Schlomo. Er lebt hier seit acht Jahren, in einer kleinen Wohnung im dritten Stock. »Wir haben nichts, wo wir hingehen können. Wir können nur ins Treppenhaus. Und das ist eine Art Russisch Roulette.«
So war es auch, als die Rakete im Hof einschlug. »Wir waren zu Hause, als wir die Sirenen hörten, hatten es noch nicht einmal ins Treppenhaus geschafft. Dann die Explosion. Alles flog auseinander.« Er meint, man müsste sie jetzt alle evakuieren. »Aber keiner kümmert sich um uns.«
170.000 Menschen leben in der Küstenstadt Aschkelon. Etwa 40.000 davon haben keinen Schutzraum. Sie haben nur die Möglichkeit, sich im Treppenhaus oder einem öffentlichen Bunker in Sicherheit zu bringen. Die Entfernung zum Gazastreifen beträgt 12 Kilometer. Wie erwähnt, bleiben da nur 30 Sekunden.
»Wir sprechen vom bestmöglichen Schutz«, erklärt der Geschäftsführer der Stadtverwaltung, Hezi Halavia, im Gespräch mit unserer Zeitung. »Es ist wirklich kein besonders gutes Gefühl, wenn man unter diesen Umständen für die Sicherheit aller Bewohner verantwortlich ist. Wir tun unser bestes. Es wäre schön, wenn wir mehr Geld und weniger Raketen hätten. Aber es ist, wie es ist.« Er sagt, dass es seit Kriegsbeginn rund 200 Einschläge in Aschkelon gab. Die Zahl der auf die Stadt abgefeuerten Geschosse liegt um ein Vielfaches höher.
11.03 Uhr: der nächste Alarm. Die Straßen sind leer, es sind kaum Menschen zu sehen. Nach wenigen Minuten fahren schon wieder die ersten, wenigen Autos. Ein Jeep des Zivilschutzes steht am Strand. »Wir bewachen diesen Abschnitt, damit wir im Notfall helfen können, aber auch um die Leute zu schützen«, sagt Maor. Er wohnt in Aschkelon, ist seit Beginn des Krieges als Reservist im Einsatz. Auf die Frage, wie viele Einschläge es hier am Strand schon gab, antwortet er kurz und knapp: »Nicht wenige.«
Maor und sein Kollege blicken auf den Küstenstreifen. Der sonst so belebte Strand ist menschenleer. Bei blauem Himmel und Sonnenschein eine idyllische, zugleich aber auch gespenstische Szene. Wie überall in der Stadt. Viele Rollläden an den Fenstern sind heruntergelassen, die meisten Geschäfte haben erst gar nicht geöffnet, Kindergärten sind geschlossen, Spielplätze verwaist.
Viele Familien haben die Stadt auf eigene Initiative hin verlassen. Auch die Bewohner des schmucken Einfamilienhauses in der Sderot Drom Afrika. Dort hat kürzlich ein direkter Raketentreffer Teile des Gebäudes und des Daches verwüstet, die davor geparkten Autos sind stark beschädigt, überall liegen Glassplitter. Es ist still in diesem Wohnviertel. Nur Hundegebell ist zu hören. Das Tier gehört Maor. Er wohnt nur etwa 50 Meter entfernt. Die Detonation hat auch bei ihm Scheiben zerbersten lassen. Er weiß, dass den Bewohnern des getroffenen Hauses nichts passiert ist. »Sie waren im Schutzraum, haben Glück gehabt. Jetzt sind sie wohl zu Verwandten gezogen.«
Das Barzilai Medical Center wurde zweimal von Raketen getroffen - ohne dass dies weltweit Schlagzeilen gemacht hätte
Nicht weit von hier entfernt befindet sich das Barzilai Medical Center. Dies wurde in diesem Krieg bereits zweimal von Raketen getroffen, übrigens, ohne dass dies weltweit Schlagzeilen gemacht hätte. Einmal explodierte eine Rakete im Bereich der Kinderfürsorge, ein anderes Mal auf einer Verbindungsbrücke zum Operationsbereich, erzählt Ayelet Kedar, Sprecherin des Hospitals.
Das Krankenhaus hat 660 Betten, derzeit jedoch weniger als 250 Patienten. »Wir haben einige nach Hause entlassen, weitere in andere Krankenhäuser gebracht, die nicht transportfähigen Kranken in den unterirdischen, geschützten Bereich verlegt. Wie das Barzilai-Team mit dieser Belastung umgeht? »Unsere Aufgabe ist es, Leben zu retten. Darauf sind wir vorbereitet und das tun wir. Aber vor allem gilt: Am Israel Chai, wir sind stark!«
Es ist 14 Uhr. Viele Mitarbeiter sind beim Essen. Ärztinnen, Pfleger, Patienten und Angehörige laufen über die Flure und plötzlich steht sie da: im blauen Kleid, mit roter Nase und einem breiten Lächeln. Sie heißt eigentlich Hagar, arbeitet als Krankenhaus-Clown, und da nennt sie sich Mimi. Sie ist seit 21 Jahren Angestellte des Hospitals. Während sie in friedlicheren Zeiten meist Kinder unterhält, ist sie jetzt häufig bei verletzten Soldaten und Zivilisten. Sie spricht mit ihnen, versucht sie aufzuheitern, singt und spielt ihre Ukulele. »Das ist auch für mich nicht immer leicht. Denn ich wohne hier in der Gegend«, sagt sie. »Aber die Menschen sehen in mir etwas, was Humor und Hoffnung bedeutet.« Humor und Hoffnung - das ist etwas, was die Stadt am Mittelmeer in diesen Tagen dringend braucht.