Interview

»Heimkehr nach 2000 Jahren Exil«

»Nicht schlecht, was wir in 75 Jahren erreicht haben. Aus dem Land, in dem Milch und Honig fließen, wurde eine erfolgreiche Start-up-Nation«: Ron Prosor Foto: Marco Limberg

Herr Botschafter, Israel wird 75. Machen Sie sich aktuell Sorgen um die Demokratie im jüdischen Staat?
Israel ist ein demokratisches Land. Wir diskutieren heftig, das ist Teil unseres Charakters. Manche sagen, dass es Teil unserer talmudischen Tradition ist. Auch wenn es Menschen gibt, die das als Schwäche sehen, ist dies unsere größte Stärke. Wir haben eine Diskussion über die Justizreform, die sehr intensiv geführt wird. In einer Demokratie hat die Öffentlichkeit das Recht, ihre Stimme zu erheben, so wie sie es tut. Ich würde mir Sorgen machen, wenn es keine Demonstrationen gäbe.

Seit der Staatsgründung wird diskutiert, ob die Idee eines jüdischen und zugleich demokratischen Staates realisierbar ist. Was meinen Sie?
Einige argumentieren, dass es eine Trennung zwischen jüdischen Prinzipien und demokratischen Prinzipien geben könnte. Ich sage: Im Gegenteil! Im Judentum gibt es die Verpflichtung, Minderheiten und Menschen aus anderen Kulturen zu respektieren – zum Beispiel heißt es im 3. Buch Mose: »Du sollst den Fremden lieben.« Es besteht die Verpflichtung, sich um die Schwachen in der Gesellschaft zu kümmern – um die Witwen und Waisen. Jedes demokratische Land steht vor Herausforderungen – und Israel wurde eigentlich seit dem Tag seiner Gründung bedroht, aber es hat immer verstanden, die Rechte des Einzelnen und der Minderheiten mit seiner Pflicht zum Schutz der Bürger in Einklang zu bringen.

Oppositionsführer Yair Lapid hat unlängst zum 74-jährigen Bestehen der Knesset die Befürchtung geäußert, die Demokratie und damit auch die Zukunft des Parlaments seien in Gefahr. Ist das übertrieben?
Der Oppositionsführer Yair Lapid und die Opposition dürfen und können sich selbstverständlich zu Plänen der Regierung äußern – so wie in jeder anderen Demokratie auch. Über die Reform wird in Israel aktuell viel diskutiert, aber ich vertraue den Strukturen der israelischen Regierung und der israelischen Zivilgesellschaft.

Wie beobachten Sie die Diskussion hier in Deutschland?
Das Wichtigste sind die Debatten in der Knesset und auf der Straße in Israel. Viele der Freunde Israels sind zurzeit besorgt – das können wir verstehen. Allerdings ist es nicht gerade hilfreich, wenn mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf uns gezeigt wird. Den wahren Freunden von Israel hören wir gerne zu. Aber viele benutzen die Diskussionen, um den jüdischen und demokratischen Staat Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren. Dabei wird häufig mit zweierlei Maß gemessen und mit doppelten Standards gearbeitet.  

Haben Jüdinnen und Juden in der Diaspora ein Recht oder gar die Pflicht, sich zur aktuellen Situation in Israel zu Wort zu melden?
Juden in der Diaspora gehören genauso zur Familie wie Juden, die in Israel leben. Sie gehören zu unseren Brüdern und Schwestern. Natürlich kann es auch innerhalb einer Familie Unstimmigkeiten geben, aber jeder kann seine Meinung frei äußern. Dabei gibt es allerdings die Möglichkeit, Kritik so zu äußern, dass sie zu hören ist: »Die Worte weiser Männer werden leicht gehört.«

Wie meinen Sie das?
Seit Gründung des Staates Israel navigieren wir zwischen der Pflicht, unsere Bevölkerung zu verteidigen, ohne dabei Grenzen zu überschreiten. Dieses Dilemma gilt genauso auch für andere demokratische Staaten. Wenn man aber im Hinterkopf behält, dass unsere Nachbarn nicht Luxemburg oder Liechtenstein heißen und nicht gerade blütenreine Demokratien sind, bin ich stolz darauf, wie gut uns das in all den Jahren gelungen ist.

Hätte sich vor 75 Jahren jemand träumen lassen, dass der jüdische Staat einmal einen Beitrag zum Schutz der Bundesrepublik und Europas leisten würde?
In einem Land, das von einer verfolgten und unterdrückten Minderheit gegründet wurde, haben wir es geschafft, jede Herausforderung in eine Chance zu verwandeln – von der Landwirtschaft bis zur Sicherheit. Der Mangel an Wahlmöglichkeiten machte den Staat Israel zu einem Kraftzentrum in einer Vielzahl von Bereichen: Wissenschaft, Wirtschaft, Landwirtschaft, Energie und Sicherheit. Kein kleines, armes Land mehr, das Hilfe braucht, sondern ein Land, das seine Stärke einem seiner engsten Freunde zur Verfügung stellt. Nicht schlecht, was wir in 75 Jahren erreicht haben. Aus dem Land, in dem Milch und Honig fließen, wurde eine erfolgreiche Start-up-Nation.

Was bedeutete die Gründung des jüdischen Staates vor 75 Jahren?
Eine Heimkehr nach 2000 Jahren Exil – die Errichtung eines sicheren Hafens für das jüdische Volk. Ich halte diese Perspektive immer noch für aktuell. In vielen Ländern gibt es derzeit einen Anstieg von antisemitischen Vorfällen. Für alle Jüdinnen und Juden auf der Welt existiert mit Israel ein Schutzraum. Die Lehre aus der Schoa ist für uns, dass wir nie wieder abhängig von anderen sein wollen und in der Lage sein müssen, uns zu verteidigen.

Der UN-Teilungsplan wurde nie Realität. Gibt es nach 75 Jahren Chancen für einen Frieden mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarn?
Im Nahen Osten gibt es aktuell eine richtige Zeitenwende, auch wenn das in Deutschland vielen noch nicht bekannt ist. Israels Hand ist immer in Richtung derjenigen ausgestreckt, die wirklich Frieden erzielen wollen, und wird es immer bleiben. Wir haben dies in der Vergangenheit mit Ägypten und Jordanien und mit dem sich erweiternden Friedenskreis der Abraham-Abkommen bewiesen. Lassen Sie mich dementsprechend noch einmal auf die Debatte in Deutschland zurückkommen. Wir hören immer von der Zweistaatenlösung und davon, dass Israel dafür ein jüdisch-demokratisches Land sein muss. Aber niemand spricht je von Voraussetzungen aufseiten der Palästinenser. Mahmud Abbas befindet sich aktuell im 14. Jahr seiner vierjährigen Amtszeit als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ein Paradies für jeden demokratischen Präsidenten, aber keine gute Grundlage für eine nachhaltige Zweistaatenlösung.

Mit dem israelischen Botschafter sprach Detlef David Kauschke.

Mehr dazu lesen Sie in unserem Magazin zum 75-jährigen Bestehen Israels.

Darin stellen wir in Porträts und Interviews 75 Israelinnen und Israelis vor, für die in Israel ein Traum wahr geworden ist – Start-up Gründer, Musikerinnen, Soldaten, Landwirte, Sportlerinnen, Markthändler, Mediziner, Schriftstellerinnen und viele mehr.

Sie alle sind Israel!

Den Haag

Der Bankrott des Internationalen Strafgerichtshofs

Dem ICC und Chefankläger Karim Khan sind im politischen und juristischen Kampf gegen Israel jedes Mittel recht - selbst wenn es unrecht ist. Ein Kommentar

von Daniel Neumann  22.11.2024

Israel und der Chefankläger

Das Tischtuch ist zerschnitten

Karim Khan triumphiert. Doch nach der Ausstellung der Haftbefehle ist ihm eine Untersuchung in Gaza verwehrt

von Michael Thaidigsmann  21.11.2024

Internationaler Strafgerichtshof

Netanjahu: »Verfahren wird wie Dreyfus-Prozess enden«

Gegen Israels Ministerpräsidenten wurde ein internationaler Haftbefehl erlassen – nun wehrt er sich mit scharfen Worten

 21.11.2024

Hintergrund

Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant erlassen

Der Internationale Strafgerichtshof hat am Donnerstag einem Antrag des Chefanklägers Karim Khan stattgegeben

von Michael Thaidigsmann  21.11.2024

Nahost

Israelischer Historiker bei Feldstudie im Südlibanon getötet

Der Wissenschaftler wollte in der Kampfzone eine Festung studieren

 21.11.2024

Nahost

Ringen um Waffenruhe: Amerikanischer Vermittler optimistisch

Amos Hochstein trifft heute Benjamin Netanjahu

 21.11.2024

Charedim

Wehrpflicht für alle?

Unter Israels Reservisten wächst der Unmut über die Ausnahmeregelung

von Sabine Brandes  21.11.2024

Vermisst

»Meinem Vater ist kalt«

Ohad Ben Ami wurde ohne Kleidung gekidnappt

von Sabine Brandes  21.11.2024

Libanon/Israel

US-Vermittler: Fortschritte im Ringen um Waffenruhe

Amos Hochstein bringt Bewegung in die Verhandlungen

 22.11.2024 Aktualisiert