Terror

Ein verräterrischer Post

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (l.) und Verteidigungsminister Yoav Gallant Foto: POOL

Es war nicht einfach ein Post auf X, der hätte missverstanden werden können. Nur Stunden, nachdem Premierminister Benjamin Netanjahu am Samstagabend auf einer Pressekonferenz gemeinsam mit Verteidigungsminister Yoav Gallant die »zweite Phase des Krieges« verkündete, verfasste er einen Social-Media-Beitrag. Darin wälzte er die gesamte Schuld an dem Versagen der israelischen Sicherheitsdienste während der blutigen Hamas-Angriffe vom 7. Oktober ab. Verantwortlich seien einzig Armee und Geheimdienste.

»Unter keinen Umständen und zu keinem Zeitpunkt wurde Premier Netanjahu vor der Absicht der Hamas gewarnt, in den Krieg zu ziehen«, schrieb er. Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts, forderte, dass Netanjahu seine Äußerungen zurücknimmt. »Führung erfordert Verantwortungsbewusstsein. Jede andere Art von Wort oder Tat schadet der Widerstandsfähigkeit und Stärke der Nation.« An die Armee gewandt sagte er: »Wir sind alle auf Ihrer Seite und stehen hinter Ihnen. Schauen Sie nicht nach oben oder zurück.«

Oppositionsführer Yair Lapid, der sich geweigert hatte, der Notstandsregierung beizutreten, erklärte: »Während IDF-Soldaten und -Offiziere tapfer gegen Hamas und Hisbollah kämpfen, versucht der Ministerpräsident, ihnen die Schuld zu geben, anstatt sie zu unterstützen. Dies schwächt die IDF, während sie gegen Feinde kämpft.« Netanjahu habe eine Grenze überschritten und »muss sich entschuldigen«. Netanjahu gab daraufhin zu: »Ich habe mich geirrt« – und entschuldigte sich. Er fügte hinzu, dass er die Chefs der Sicherheitsdienste voll und ganz unterstütze.

MORAL Doch es könnte sein, dass eine Entschuldigung nicht ausreicht und dieser eine Post ihm zum Verhängnis wird. Die Moral der Truppen in Israels schwersten Stunden zu schwächen, wird von den wenigsten als Lappalie aufgefasst. Nur einen Tag danach forderten verschiedene israelische Medien Netanjahus Rücktritt, darunter die Times of Israel, die linksliberale Haaretz und die Wirtschaftszeitung Calcalist. Angeblich würde mittlerweile auch auf den Fluren der Knesset darüber gesprochen. Ein Minister des Likud, der nicht namentlich genannt werden möchte, habe erklärt, er fühle, wie sich die Stimmung drehe. »Diese Regierung ist definitiv nicht stabil. Ich glaube, dass einige aus seiner Ecke ihn stürzen werden und es in nicht allzu langer Zeit zu Wahlen kommt«, zitierte ihn Haaretz.

Laut einer aktuellen und repräsentativen Umfrage des Israeli Democracy Institute meinen derzeit nur noch 14 Prozent der Bevölkerung, ihr Schicksal sei in den Händen der Regierung gut aufgehoben. Zu dem extremen Vertrauensverlust haben sicher auch die zögerlichen Reaktionen nach der Katastrophe beigetragen. Netanjahu ließ volle acht Tage verstreichen, bevor er die südlichen Gemeinden bereiste. Überlebende beklagten sich anschließend, er sei gekommen, um sich fotografieren zu lassen, und nicht, um zu helfen.

Auch Mitglieder seiner Koalition werden heftig kritisiert. Finanzminister Bezalel Smotrich von der extremistischen Partei Religiöser Zionismus legte erst einen Nothilfeplan für die betroffene Region vor, nachdem Vertreter der Gemeinden im Süden erklärt hatten: »Jetzt hat uns die Regierung auch finanziell im Stich gelassen.« Der rechtsradikale Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wurde dabei gefilmt, wie er Gewehre an seine Anhänger verteilte. Das verärgerte die USA so sehr, dass sie drohten, die Waffenlieferungen an Israel einzustellen, wenn dies noch einmal geschehe.

VERANTWORTUNG Auch die Verantwortung für Gewaltausbrüche im Westjordanland und der Anstieg der Siedlergewalt werden der Koalition zugeschrieben. Kanal 12 berichtete, Schin-Bet-Chef Ronen Bar habe das Kriegskabinett informiert, dass »diese Vorfälle die Gegend in Brand setzen und dem Krieg gegen die Hamas schaden«. Einer, der nicht mehr schweigend dabei zusehen will, ist Amnon Shashua. Nach Meinung des Gründers und Geschäftsführers des milliardenschweren Unternehmens Mobileye habe sich Netanjahus Koalition des »Versagens, der Dissonanz und Inkompetenz« schuldig gemacht. »Wir müssen unsere Verluste begrenzen – und zwar schnell. Die einzige Lösung für die aktuelle Situation in Israel besteht darin, die Regierung zu ersetzen. Und das muss sofort geschehen.«

Hinzu kommt die immer lauter werdende Kritik der Angehörigen der Geiseln. Sie forderten ein Treffen mit Netanjahu, nachdem die Bodenoffensive begonnen hatte. Zuvor hatte Gallant bekannt gegeben: »IDF-Truppen manövrieren an den relevanten Orten und attackieren derzeit die Hamas-Stellungen, ob über- oder unterirdisch. Die Stärke der Schläge erschüttert den Boden in Gaza, und es ist anders als alles, was die Hamas seit ihrer Gründung erlebt hat.« Die Operation sei präzise, tödlich und äußerst wirkungsvoll.

BESORGNIS Doch da sie so »tödlich« sei, wie er hervorhob, bangen die Familien der 229 Geiseln, israelische wie ausländische Staatsangehörige, mehr denn je um das Leben ihrer Liebsten. Merav Leshem Gonen, Mutter von Romi Gonen (23), die vom Nova-Musikfestival gekidnappt wurde, sprach stellvertretend für das Forum der Familien von gekidnappten und vermissten Personen: »Es ist sehr hart für uns. Wir sind Wochen ohne jegliches Lebenszeichen unserer Liebsten. Und jetzt hören wir von Panzern, die nach Gaza fahren. Wir sind zutiefst besorgt.«

Die Moral der Truppen zu schwächen, wird von den wenigsten als Lappalie aufgefasst.

Gantz versicherte im Gespräch mit den Familien, dass Israel »alle Anstrengungen« unternehme, um die Geiseln zurückzubringen. Netanjahu indes hob hervor, dass sich Israels Ziel, die Hamas im Gazastreifen zu zerschlagen, nicht ändern werde. Die Ausweitung der Bodenoperationen stehe der Rückführung der Gefangenen angeblich nicht im Weg.

Während der Premierminister diese Worte im Hauptquartier der Armee in Tel Aviv sprach, flehten die Angehörigen draußen vor dem Gebäude inständig um die Freilassung ihrer Geliebten mit Plakaten. Darauf stand: »Lasst sie nicht ein zweites Mal im Stich.«

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