Tal Kupershtein will, dass seine Worte überallhin dringen – bis in die tiefsten Tunnel von Gaza. Denn dort ist sein Sohn Bar gefangen. Nach einem schweren Unfall und Schlaganfall sitzt Tal Kupershtein im Rollstuhl und verlor die Fähigkeit zu sprechen. Doch seit über einem Jahr arbeitet er unermüdlich daran, seine Sprache wiederzuerlangen. Er will für die Freilassung von Bar kämpfen. Mit seinen eigenen Worten.
Am Montag nun sprach er in der Knesset und berichtete vom Schicksal seines Sohnes, den er so sehr vermisst.
Er trug ein schwarzes Sweatshirt mit dem gelben Aufdruck »Now« – jetzt. Es ist das eine Wort, das symbolisch für den Kampf steht, die Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas in Gaza freizubekommen.
Man sah sofort, dass es Tal Kupershtein extreme Anstrengung kostet, sich mit Worten auszudrücken. Doch man erkannte auch seine Entschlossenheit. Er will sprechen. Von seinem Leben, seinem Sohn und allem, was er verlor. »Vor sechs Jahren bin ich bei einem Unfall verletzt worden, als ich als freiwilliger Sanitäter auf dem Weg war, um Menschenleben zu retten. Nach dem Unfall habe ich einen Schlaganfall gehabt. Bar musste schon mit 17 arbeiten, um zu helfen, die Familie zu ernähren.«
Video: Dana Wüstemann
Bar übernahm alle Verantwortung
Nachdem sein Vater verletzt wurde, übernahm er das Falafel-Lokal, das sein Vater erst zwei Monate zuvor eröffnet hatte. Er zog zu seinen Großeltern, um zu Hause Platz für eine Pflegekraft zu schaffen, die in der Wohnung der Eltern einziehen musste. Außerdem arbeitete der junge Mann weiter ehrenamtlich bei der Hilfsorganisation Yedidim, die sich um Opfer von Unfällen kümmert.
Bar war am 6. Oktober nicht zum Nova-Musikfestival gegangen, um zu tanzen. Er arbeitete dort als Sicherheitsmann. Anstatt nach dem Beginn des verheerenden Angriffs zu fliehen, blieb er und meldete sich freiwillig als Sanitäter, behandelte die Verletzten und brachte sie vom Ort des Massakers an einen sicheren Ort. Er kehrte mehrfach zurück, um weiteren Opfern zu helfen.
Schließlich nahm er einem ermordeten Sicherheitsmann die Waffe ab und kämpfte gegen die Hamas-Terroristen. Doch schließlich wurde der heute 22-Jährige angeschossen und von Terroristen verschleppt. »Das ist Bar«, erklärt sein Vater. »Er kümmert sich immer erst um andere, bevor er sich um sich selbst kümmert.«
Bis vor wenigen Wochen, als Geiseln nach etwa 500 Tagen der Gefangenschaft der Hamas in Gaza freigelassen wurden, hatte die Familie nicht ein einziges Lebenszeichen erhalten. Doch dann kamen mit den Zurückgekehrten Botschaften aus Gaza.
»Und jetzt wissen wir mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Bar am Leben ist«, so sein Bruder Dvir Kuperstein im Außen- und Verteidigungsausschuss der Knesset. »Aber morgen kann sich alles ändern – sogar in einer weiteren Stunde oder Minute schon.«
Dvir Kupershtein: »Wir wissen mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Bar am Leben ist.«
Während andere Angehörige von Geiseln nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober ihr Schicksal sofort öffentlich machten, waren Familie und Freunde von Bar zunächst nur selten bei Kundgebungen zu sehen. Doch eines Tages wollte Kupershtein nicht mehr tatenlos zusehen.
Er fuhr mit seinem Rollstuhl auf den Platz der Geiseln in Tel Aviv, ein Poster mit dem Gesicht von Bar vor der Brust: »Ich habe einfach angefangen, über meinen Jungen zu sprechen. Ich habe nach ihm gerufen und jeder hat mich verstanden.«
Und die Menschen haben mehr als nur »verstanden«. Viele Aktivisten, Aktivistinnen und Angehörigen von anderen Geiseln sichern ihm Beistand zu und helfen ihm dabei, Bar nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wann immer er öffentlich auftritt, rufen sie ihm zu: »Ata lo lewad, anachnu itcha!« – Du bist nicht allein, wir sind an deiner Seite.
Auch Anel D’Souza, der Mann aus Indien, der Kupershtein betreut und ihn auf die Demonstrationen begleitet, trägt stets ein T-Shirt mit dem Porträt von Bar.
Seit über einem Jahr arbeitet Tal Kupershtein intensiv mit einem Logopäden zusammen und sieht immer größere Erfolge. »Bar weiß nicht, dass ich sprechen kann«, sagte er jetzt vor den Abgeordneten. Vor seiner Entführung habe Bar immer wieder betont, dass es sein größter Wunsch sei, den Vater wieder laufen zu sehen und sprechen zu hören. Der größte Wunsch des Vaters, nach der Freilassung seines Sohnes, ist es, ihm diesen Wunsch endlich zu erfüllen.
Geiseln schöpfen Kraft durch Kampf der Angehörigen
Nach den Aussagen einiger der freigelassenen Geiseln, die über die Hoffnung und Kraft sprachen, die sie aus dem Kampf ihrer Familien schöpften, sei es möglich, dass auch Bar in den Tunneln von den überraschenden gesundheitlichen Fortschritten seines Vaters etwas mitbekommen hat. »Ich weiß nicht, ob es irgendjemanden berührt hat«, fragt sich der Vater, »und ich weiß nicht, ob Bar mich hört. Aber ich hoffe es sehr«.
Und auch wenn nicht gewiss ist, dass die Worte tatsächlich bis zu seinem Sohn gelangen, einer Sache kann sich Tal Kupershtein ganz sicher sein: Seine Worte, die aus den Tiefen seines Herzens kommen, berühren jeden Menschen, der sie hört.