Dror Moreh (61) war vier Jahre Elitesoldat in der israelischen Luftwaffe, dann Kameramann und Regisseur. Sein Film The Gatekeepers über sechs Chefs des Schin Bet wurde 2013 für den Oscar nominiert. Moreh lebt in Berlin und hat seine Kinder in Tel Aviv besucht, als das Massaker begann.
Herr Moreh, Ihre Filme zeigen immer wieder eine große Geduld und Genauigkeit, wenn Sie seelische Prozesse abbilden. Was fühlen Sie in sich, wie geht es Ihnen jetzt?
Präsident Biden hat es gut ausgedrückt: Man fühlt ein schwarzes Loch in der Seele. Wenn du dir die Brutalität der Mörder ansiehst, wie sie diese unschuldigen Menschen abgeschlachtet haben, Frauen und Kinder, das hat starke Auswirkungen auf die eigene Seele. Um das zu verarbeiten, was hier passiert ist, braucht es Zeit. Viel Zeit.
Sie waren Soldat und Reservist. Manche Leute nennen die Hamas-Mörder »Kämpfer«. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Ich kann nachvollziehen, wenn Soldaten bewaffnete Gegner bekämpfen. Ich kann nicht begreifen, wie jemand Babys in ihren Krippen köpfen oder anzünden kann, Frauen zuerst vergewaltigen und dann bei lebendigem Leib verbrennen kann. In den vergangenen acht Jahren habe ich mich intensiv als Filmemacher mit den Genoziden, den Völkermorden nach 1989 auseinandergesetzt. Ich habe Bilder aus Bosnien gesehen, aus Ruanda, aus Libyen, aus Syrien, aus Darfour. Aber was ich in den letzten Tagen sehen musste, das war schlimmer, das ist kaum zu vergleichen.
Was hören Sie aus Ihrer ehemaligen Einheit der Luftwaffe, was sagen Ihre Freunde?
Viele meiner Freunde haben Kinder im Alter meiner Kinder, die auf dem Musikfestival waren. Sie sind verschwunden. Die Leichen sind noch nicht alle identifiziert. Wir sind alle unter Schock.
Wir alle fragen uns, wie diese Katastrophe geschehen konnte. Wie die Hamas-Mörder in so großer Zahl nach Südisrael eindringen konnten.
Sie haben einen sehr besonderen und, ich muss fast sagen, imponierenden Angriff geplant, der Israel völlig überrascht hat. Die Menschen in den Kibbuzim an der Grenze mussten viele Stunden durchhalten und versuchen zu kämpfen. Manche haben es geschafft, viele wurden abgeschlachtet. Mindestens zwölf Stunden dauerte es, bis die Armee eingreifen und die Überlebenden befreien konnte. Was diese Menschen durchmachen mussten, über viele Stunden, den Türgriff festhalten, damit die Mörder nicht ins Haus eindringen und alle töten konnten, und währenddessen haben sie die Nachbarn beten oder um Hilfe schreien gehört, das hat Israel nie erlebt. Nicht einmal im Unabhängigkeitskrieg 1948.
Der Hamas ist es gelungen, die elektronischen Sicherungen und Videoüberwachungen am Grenzzaun auszuschalten. Warum hat niemand von den Geheimdiensten oder den Sicherheitskräften in der Armee das geahnt?
Es war wie beim Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren. Es gab ein Konzept. Einen Plan. Das Konzept ging damals von der Annahme aus, dass die Araber Israel nicht angreifen würden. Dann haben Syrien und Ägypten angegriffen; ein Totalversagen der Geheimdienste, obwohl es so viele Warnungen gab. Die Dienste hatten ihr Konzept, das besagte: kein Angriff. Und die Überraschung war komplett. 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg genau das Gleiche: Die Hamas wird nicht angreifen. Die Hamas möchte das Leben der Bevölkerung in Gaza verbessern. Wir haben gesicherte Grenzen, durch die niemand durchkommt, es wird sporadisch ein paar Angriffe geben, aber damit können wir leben. Und nun ist alles zusammengebrochen. Armee und Geheimdienste haben es mit einer völlig neuen Kraft zu tun. Einer Art Islamischem Staat. Sie hatten ihren Plan, dem sie folgten. Sie wollten die Warnzeichen nicht sehen. Zudem war Israel in den letzten neun Monaten völlig beschäftigt mit dieser Justizreform, die Netanjahu durchziehen will. Das hat Israel gespalten. Die Kraft Israels jedoch entsteht aus der Einheit der Menschen. Netanjahu hat Israel auseinandergerissen, um sich selbst zu retten.
Im Moment stehen wir alle unter Schock, noch sind nicht alle Leichen identifiziert, noch weiß niemand, wie viele Geiseln die Terroristen nach Gaza verschleppt haben. Dennoch muss man beginnen, die Verantwortungen für dieses Totalversagen der Sicherheitskräfte zu benennen. Für sie spielt der israelische Ministerpräsident eine zentrale Rolle. Er hat zum Beispiel den Generalstabschef Herzl Halevi nicht empfangen, obwohl der am 24. Juli offenbar um einen Termin wegen der angespannten Sicherheitslage gebeten hatte.
Benjamin Netanjahu hat komplett inkompetente und verantwortungslose Minister in seinen Ministerien, die er nur nach Loyalität ihm gegenüber und gegenüber seiner Frau ausgewählt hat. Vor drei Monaten wollte er den Verteidigungsminister feuern, weil der es gewagt hat, zu sagen, dass Israel durch die Justizreform und die Spaltung existenziell gefährdet ist. Hunderttausende haben deshalb protestiert. Vielleicht war auch dies ein Grund für den jetzigen Angriff auf Israel.
Die Geiseln sind in einer furchtbaren Lage. Was fürchten Sie?
Netanjahu hat vor neun Jahren mehr als 1000 Terroristen freigelassen, für einen israelischen Soldaten, darunter auch den jetzigen Chef der Hamas in Gaza. Ich glaube, ohne Verhandlungen können die Geiseln nicht freigelassen werden, aber wie verhandeln? Und wenn Bodentruppen nach Gaza reingehen, um die Hamas zu zerstören, das geht nicht aus der Luft, dann heißt das wahrscheinlich, so traurig es ist, dass die meisten Geiseln getötet werden.
Israel war immer das Zufluchtsland für Juden in aller Welt. Wird es das je wieder werden?
Israel ist heute der Ort, an dem die meisten Juden ermordet werden, weil sie Juden sind. Als Jude sind Sie sehr viel sicherer in Berlin und anderswo, abgesehen von der arabischen Welt oder Ländern, die wir zur Achse des Bösen rechnen. Die Frage ist, wie Israel überleben kann. Wir haben den Iran als Feind, der uns eliminieren will. Ich will das jetzt nicht überdramatisieren, aber Israel muss eine sichere Zuflucht für jüdische Menschen bleiben. Präsident Joe Biden hat kürzlich erzählt, wie er als ganz junger Senator Premierministerin Golda Meir getroffen hat. Sie meinte zu ihm, die Israelis hätten eine Geheimwaffe, und die heißt: Wir haben einfach keinen anderen Ort, an den wir gehen können. Das erklärt alles. Wir dürfen nicht verlieren.
Mit dem israelischen Regisseur, Fotografen und Filmproduzenten sprach Maria Ossowski.