Nachruf

»Ein Superzionist«

Mischte sich bis zuletzt in die großen Debatten unserer Zeit ein: Zeev Sternhell (1935–2020) Photo by Yossi Zamir/Flash 90 *** Local Caption *** æàá ùèøðäì ôøåôñåø Foto: Flash 90

Mit den Schubladen ist es so eine Sache. Manche Intellektuelle lassen sich partout nicht in sie einordnen. Zeev Sternhell ist genau so einer. Der 1935 im polnischen Przemysl geborene Politologe und Historiker hat es zeit seines Lebens Freunden und Gegnern nicht unbedingt leicht gemacht.

Denn mit seinen luziden Analysen zu Phänomenen wie dem Faschismus oder zur aktuellen Politik in Israel entzog er sich stets der Zuordnung in das klassische Links-Rechts-Schema. Vor allem für die Anhänger einer komplexitätsreduzierten Sicht auf die Dinge blieb Sternhell Herausforderung und Provokation zugleich.

FASCHISMUS Wer bei ihm etwa argumentative Schützenhilfe für die Ablehnung des Existenzrechts Israels erhoffte, wurde ebenso enttäuscht wie die Vertreter einer monokausalen Deutung des Faschismus als Auswuchs des Kapitalismus. »Es gibt in unserem politischen Vokabular nur wenige Begriffe, die sich einer solch umfassenden Beliebtheit wie das Wort Faschismus erfreuen, ebenso aber gibt es nicht viele Konzepte im politischen Vokabular der Gegenwart, die gleichzeitig derart verschwommen und unpräzise umrissen sind«, schrieb er 1976 in seinem Essay Faschistische Ideologie.

Sternhell entzog sich stets der Zuordnung in das klassische Links-Rechts-Schema.

Im Unterschied zu den meisten Vertretern seiner Zunft verfolgte er einen ideengeschichtlichen Ansatz und plädierte dafür, den Faschismus nicht nur als reaktionäre Strömung zu betrachten, sondern ebenfalls seine revolutionären, nonkonformistischen und avantgardistischen Wurzeln zur Kenntnis zu nehmen.

Gleichzeitig erteilte Sternhell der Annahme von Historikern wie Ernst Nolte, dass der Nazismus eine Imitation des Bolschewismus sei, den man völlig losgelöst von deutschen Kulturtraditionen betrachten könne, eine klare Absage.

KINDHEIT Auch wenn es ein wenig nach Küchenpsychologie klingt, so scheint das Biografische zumindest in diesem Fall einen Schlüssel zum Verständnis seiner Überzeugungen zu liefern. Ein Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstarb Sternhells Vater, der Soldat bei den polnischen Streitkräften gewesen war. Zwei Jahre später wurden seine Mutter und seine Schwester von den Nazis ermordet. Als kleiner Junge war Sternhell in Przemysl mehrfach Zeuge, wie Juden gejagt und getötet wurden.

Er selbst wurde verschont. Verwandte schmuggelten ihn nach Lemberg. Dort fand er mit gefälschten Papieren Unterschlupf bei katholischen Familien. Kurz nach dem Krieg taufte man ihn sogar. 1946 gelangte der Elfjährige mit der Hilfe des Roten Kreuzes nach Frankreich, wo er seine christliche Identität wieder abstreifte und zum Judentum zurückkehrte. Als Teenager wanderte Sternhell schließlich 1951 nach Israel aus.

»Die Gründung des Staates war für mich wie die Erschaffung der Welt«, skizzierte er 2008 in einem Interview mit der Tageszeitung »Haaretz« seine Gefühle von einst. »Sie versetzte mich in eine Art Verzückung. Ich bin nicht nur Zionist, sondern ein Superzionist. Für mich war und bleibt der Zionismus das Recht der Juden, über ihr Schicksal und ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Ich halte das Recht der Menschen, ihre eigenen Herren zu sein, für ein Naturrecht. Genau dieses wurde den Juden durch die Geschichte vorenthalten, und der Zionismus gab es ihnen zurück. Das ist seine tiefe Bedeutung.«

KOMMANDEUR Als Soldat und Reservist nahm Sternhell an fast allen Kriegen in der Geschichte Israels teil, unter anderem als Kommandeur einer Einheit der Golani-Brigade. Das sollte ihn aber nicht daran hindern, die Besatzungspolitik auf das Heftigste zu kritisieren.

Schon vor über 40 Jahren war er ein entschiedener Verfechter der Formel »Land für Frieden« und setzte sich für einen Ausgleich mit den Palästinensern ein. »Ich bin ein alter zionistischer Linker, sowohl im nationalen als auch im sozialen Sinne. Wenn man so will, bin ich ein National-Israeli. Es wird zweifellos Freunde von mir auf der Welt geben, die dies nicht positiv sehen, aber ich habe noch nie darum gebeten, positiv betrachtet zu werden.«

Gleichzeitig – und diese Erkenntnis basierte zweifellos auf seinen Lebenserfahrungen und der Beschäftigung mit dem Faschismus – war Sternhell fern davon, ein naiver »Peacenik« zu sein. »Ich mache mir nichts vor. Ich glaube, wenn die Araber uns vernichten könnten, würden sie dies mit Freude tun.«

Israels politische Entwicklung betrachtete er mit großer Sorge, attestierte der Siedlungspolitik, dass sie »einen starken Beigeschmack von imperialer Expansion« habe, und befürchtete in jüngster Zeit eine Erosion der Demokratie.

ENDSTATION Im Jahr 2008 war er Träger des Israel-Preises, und im selben Jahr verübte ein jüdischer Terrorist einen Rohrbombenanschlag auf ihn, den er schwer verletzt überstand. Trotz allem hat er sich nie von Israel, seinem Land, abgewendet. »Israel ist meine Endstation«, betonte er 2014 in einem Gespräch mit dem »Spiegel«. »Ich war Flüchtling, Staatenloser, von hier gehe ich nicht mehr weg, auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich mir eine andere Gesellschaft, sogar eine radikal andere, vorgestellt hatte.«

Nun ist Zeev Sternhell an den Folgen einer Operation verstorben. Er hinterlässt seine Frau Ziva sowie zwei Töchter und zahlreiche Enkelkinder.

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